Wo Ideen Gestalt annehmen

06.01.2016 | Von Hermann Romer | Benutzung | Raum und Infrastruktur | Bibliothek als Ort| Digital Literacy| Makerspaces| Zukunftsperspektiven

Der Winterthurer Makerspace fördert die Nutzung digitaler Technik im Alltag.

Von Hermann Romer
Hermann Romer, seit 2004 Leiter Winterthurer Bibliotheken, engagiert sich in verschiedenen Organisationen für zeitgemässe öffentliche Bibliotheken und für eine zukunftsorientierte Bibliotheksentwicklung.
Die öffentliche Bibliothek ist in der Krise! Angestrengt suchen Bibliotheksverantwortliche und Wissenschaftler den Bedarfsnachweis der Bibliothek im 21. Jahrhundert. Das Detailhandelskonzept der Sortimentsbibliothek steht unter Druck, die Wissensvermittlung betreiben zahlreiche Konkurrenten effektiver und Dritte Orte gibt’s zuhauf! Welches Alleinstellungsmerkmal bleibt der öffentlichen Bibliothek? 
 
Am 1. Dezember 2015 ging Radio SRF 1 in seiner Sendung "Doppelpunkt" den Fragen nach, ob es in naher Zukunft keine Bibliotheken mehr gäbe und was im digitalen Zeitalter allenfalls die Rolle der öffentlichen Bibliotheken sein könne. "Leseförderung", "sozialer Treffpunkt" oder "Bildungsstätte" sind beliebte Formeln, wenn Bibliothekarinnen und Bibliothekare die Aufgaben ihrer Institutionen umschreiben dürfen. Auf eine weniger oft zitierte Rolle verwies Regula Hirter, Leiterin des Makerspaces der Winterthurer Bibliotheken, als sie in der Sendung die Funktion der Bibliotheken in der Zukunft beschreiben sollte. Sie seien Orte, wo Ideen entwickelt, ausgetauscht und mit den vorhandenen Mitteln realisiert würden; ob allein oder in Gruppen spiele dabei keine Rolle, meinte die Bibliothekarin. Und der Makerspace sei jener Ort in der Bibliothek, wo genau das passiere. Das ist vielleicht neu in der Schweiz, international hat sich dagegen die Makerbewegung längst etabliert. In Nordamerika zum Beispiel verfügt bereits heute jede sechste Bibliothek über einen Makerspace in ihren Räumen (www.newscientist.com/article..., Technology news 16 July 2014, Aviva Rutkin, Books out, 3D printers in for reinvented US libraries).
 
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Auch wenn es bis heute verschiedene Definitionen und Ausprägungen von Makerspaces, Hackerspaces oder FabLabs gibt, hat sich in den letzten Jahren eine gültige Definition herauskristallisiert: "A makerspace is a physical location where people gather to share resources and knowledge, work on projects, network, and build. Makerspaces provide tools and space in a community environment—a library, community center, private organization, or campus. Expert advisors may be available some of the time, but often novices get help from other users." (Ein Makerspace ist ein physischer Ort, wo Menschen zusammenkommen, um Ressourcen und Wissen zu teilen, an Projekten zu arbeiten, sich zu vernetzen und Dinge aufzubauen. Makerspaces stellen die Werkzeuge und Platz zur Verfügung und zwar an einem öffentlich zugänglichen Ort – Bibliothek, Gemeindezentrum,  private Organisation oder Campus. Zu gewissen Zeiten können Experten anwesend sein, aber oft erhalten Anfänger einfach Hilfe von andern Usern.)
(www.educause.edu/ELI/7 Things You Should Know About ... ™, April 2013).
 
Doch weshalb sollen sich ausgerechnet Bibliotheken der Makerbewegung anschliessen?

Öffentliche Bibliotheken engagieren sich seit über hundert Jahren für den Ausgleich des Wissensdefizits in der Gesellschaft. Volksbibliotheken waren Suppenküchen des Wissens, sie führten Lesesäle, förderten die Alphabetisierung in den Arbeiterschichten und sorgten für eine niederschwellige Wissensvermittlung. In den vergangenen 40 Jahren rückte die Rolle als schulbegleitende Institution in den Mittelpunkt. Und in jüngster, ökologisch geprägter Zeit wird das Teilen von Ressourcen ein immer stärkeres Label für die öffentlichen Bibliotheken. Sie leisten als Entleiher von Medien einen wesentlichen Beitrag zum nachhaltigen Umgang mit endlichen Rohstoffen.
 
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Mit dem Reload und der Bündelung dieser historisch gewachsenen Funktionen hätten es die öffentlichen Bibliotheken eigentlich in der Hand, sich für die Zukunft unentbehrlich zu machen. Die logische Fortentwicklung der klassischen Aufgaben ins 21. Jahrhundert enthält Potential genug für ein Alleinstellungsmerkmal in der digitalisierten Wissensgesellschaft, und der Makerspace könnte die Existenzberechtigung der Bibliothek der Zukunft aus ihren eigenen Wurzeln heraus nachhaltig stützen. Weshalb?  
 
1. Ein Makerspace ist ein niederschwelliger Ort, wo jede Person sich getrauen kann, allein oder mit anderen die digitale Welt zu erobern. "Digital Immigrants" sind willkommen! Man kann für sich arbeiten oder Hilfe in Anspruch nehmen. Immer sind Menschen da, die einem weiterhelfen können. Der Makerspace ist der ideale Ort, um selbstgesteuert zu lernen.
 
2. Für die Schulen und in der Bibliothekspädagogik bietet der Makerspace eine einmalige Lernumgebung. Hier können Experimente durchgeführt, Ideen gemeinsam umgesetzt oder theoretisches Wissen praxisorientiert angewendet werden. Makerspaces sind Labore des Wissens und der Erfahrung.
 
3. Für die breite Bevölkerung ist der Makerspace ein kreativer Ort, wo mit Hard- und Software, programmierten Geräten und Robotertechnologie eigene Kreationen entworfen und auch realisiert werden können. Im Mittelpunkt stehen das alltagsorientierte Programmieren von Technik und selbstredend auch der Austausch darüber unter den Anwendern.
 
4. Der Makerspace ist ein Ort, wo Ressourcen geteilt werden: teure oder komplexe Hard- und Software wird von der Bibliothek erworben und allgemein und kostenlos von vielen genutzt. Teilen und Nutzen dient allen, Laien und Experten.       
 
Im Makerspace führt die öffentliche Bibliothek ihre klassischen Aufgaben fort. Sie fördert die Kulturtechniken Lesen und Schreiben, erweitert diese aber um die Alphabetisierung des 21. Jahrhunderts, das Programmieren. Sie öffnet den Zugang zu Wissen und Information für alle, indem sie den technisch weniger Gewandten hilft, auch in Zukunft, in einer digitalisierten Welt, den durch Technologie bestimmten Alltag selbständig zu bewältigen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Förderung der "Digital Literacy".
 
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Was trieb die Winterthurer Bibliotheken im Jahr 2013 – in Köln hatte eben der erste deutsche Makerspace eröffnet – in ein solch ungewisses Projekt wie die Realisierung eines Makerspaces? Inspiriert von den Bibliothekskonzepten aus den Niederlanden und aus Skandinavien, die 2010 an der hauseigenen Metamorphosen-Tagung vorgestellt und in Workshops diskutiert wurden, begannen einige Mitarbeitende an neuen, co-creativen und partizipativen Wissensprozessen zu tüfteln. Das Bibliothekskonzept des konsumorientierten Mediensortimenters sollte dem Gedanken einer co-creativen Community und Lernwelt weichen. Es ging in Winterthur um nichts weniger als um den Release des Bibliotheksservices an sich. Und dies hatte durchaus auch programmatische Züge, betrachtet man den Zustand der Schweizer Bibliothekslandschaft:
 
Öffentliche Bibliotheken funktionieren heute wie Konsumorte. Sie verleihen Unterhaltungsware nach Hause, betreiben Cafés, auch wenn dort längst keine Zeitschriften und Zeitungen mehr ausliegen, der "Quartiertreffpunkt" ist zur Leerformel des "Dritten Orts" verkümmert und Veranstaltungen dienen noch lediglich dazu, sich von Museen, Kinos und Theatern mit höheren Nutzungsfrequenzen abzuheben. Die Bibliothek als Eventmaschine ist allgegenwärtig. Wo bleibt da das Alleinstellungsmerkmal?
 
Eine Antwort auf die Frage erhofften sich die Winterthurer Bibliotheken von der skandinavischen Bibliotheksentwicklung. An der bereits erwähnten Metamorphosen-Tagung präsentierte Rolf Hapel, Leiter der öffentlichen Bibliotheken von Aarhus (DK), das Modell gegen den passiven Eklektizismus der konsumgetriebenen Eventbibliothek Eventbibliothek (www.bibliotheken.winterthur.ch/shop-downloads/fachtagung-2010). Hapel beschreibt die Bibliothek als co-creativen "Macherort" (Makerspace). Basis seiner Ausführungen war das Four-Spaces-Konzept. Dynamisch angelegt, zwingt es die Bibliotheken in eine gestalterische Pflicht. Bibliothekarinnen und Bibliothekare sind aufgefordert, den Bibliotheksraum aktiv zu nutzen und zu bespielen. Die Bibliothek der Zukunft soll Inspiration vermitteln, Kreativität fördern, Lernort sein und Partizipation ermöglichen  (vgl. K. Schuldt und R. Mumenthaler, Vier Funktionen, vier Räume, in: SAB-info 36, 2015, H. 3, S. 18f). Dies muss der Schlüssel zum neuen Alleinstellungsmerkmal sein.
 
Doch von der Theorie zur Praxis ist es noch ein langer Weg. Für die Winterthurer Bibliotheken stellte die Entwicklung des Makerspaces vom Sommer 2013 bis zum Frühling 2015 eine gewaltige Herausforderung dar. In einer ersten Phase sollte das "Fraktal Wissen" der Stadtbibliothek räumlich so verändert werden, dass es den neuen Herausforderungen gerecht werden konnte. Der Medienbestand musste massiv verkleinert, das räumliche Layout komplett verändert und die ICT-Ausrüstung klar verstärkt werden. Gleichzeitig liess sich das Team auf einen Veränderungsprozess ein: vertraute bibliothekarische Arbeiten mussten reduziert, neues Wissen, besonders im ICT-Bereich, aufgebaut werden. Ohne den Anschluss an die regionale Makerbewegung, Kontakte zu potentiellen Partnerorganisationen und den Aufbau einer virtuellen und physischen Makercommunity hätte das Projekt keine Überlebenschancen gehabt. Der Aufbau des Netzwerks verlangte Zeit und Energie. Neben der Investition in die Infrastruktur und den Aufbau eines regionalen Makernetzwerks war die Gestaltung eines ersten inhaltlichen Angebots ein weiterer Meilenstein. Im Frühjahr 2015 war es dann endlich soweit: Der Winterthurer Makerspace nahm seinen Betrieb auf.
 
Welches Angebot stand der Bevölkerung bei der Eröffnung zur Verfügung? Der Makerspace startete bescheiden, doch ein Ausbauprogramm ist formuliert! An den technisch gut ausgestatteten Computern lassen sich heute bereits Audiodateien bearbeiten, Filme schneiden, E-Books und Flyer gestalten oder auch Langspielplatten und VHS-Kassetten  digitalisieren. Das Software-Angebot besteht fast durchwegs aus Open-Source-Produkten. Auch ein Sprachlabor steht seit Anfang 2015 dem Publikum zur Verfügung. Unter dem Label "Forum Wissen" bietet der Makerspace regelmässig Workshops an, zum Beispiel "Bloggen für Anfänger", "Anwenden von Google-Produkten im Alltag", "Eigene E-Books erstellen" und andere. In "Sprechstunden" hilft das Bibliothekspersonal in Einzelberatungen bei digitalen Nöten gerne weiter. Entscheidend ist, dass das, was im Makerspace vermittelt und erarbeitet wird, auch zu Hause und im Alltag genutzt und angewendet werden kann.
 
Für 2016 ist die nächste Ausbauetappe angesagt: Ab März kann man mit "MakeyMakey" oder "LittleBits" programmieren lernen, und das Arbeiten mit 3D-Druckern und Schneideplottern wird möglich. Für die Vermittlung des neuen Angebots spielte der erste MakerDay im November 2015 eine zentrale Rolle. Er hatte eine starke publizistische Wirkung und machte die regionale  Makerbewegung mit einem Paukenschlag bekannt. Insgesamt zeigten acht Institutionen an 18 Stationen technische Innovationen oder Anwendungen, zum Beispiel "Programmieren mit librobot", "Töne erzeugen mit LittleBits", "Desktop Publishing mit Scribus", "3D-Drucken mit unterschiedlichen Filamenten". An der Mini "Maker-Faire" der Winterthurer Bibliotheken beteiligten sich das FabLab Winterthur, das Institut für mechatronische Systeme (IMS) der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHaW), das Machwerk Winterthur und andere Partner.
 
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2000 Menschen besuchten im Verlauf des Tages die Stadtbibliothek. Dass Wissenschaft und Technik auch unterhalten können, davon war der Grossteil der Besucherinnen und Besucher nach dem Besuch der Veranstaltung überzeugt. Offensichtlich war es den Veranstaltern gelungen, am MakerDay zu vermitteln, dass digitale Techniken und Programmieren auch Spass machen und Alltagsnutzen fördern können. So vergnügten sich Jung und Alt beim Musikmachen mit dem MakeyMakey, beim Geräusche verändern mit LittleBits, beim Nähen von Pulswärmern an der Overlock-Nähmaschine und beim Zeichnen mit Tinker-CAD. Nach diesem Tag war allen Beteiligten klar, die Makerbewegung war in der Region Winterthur angekommen und der MakerDay ruft nach Wiederholungen.
 
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(Sämtliche Bilder winbib)
Die eingangs gestellte Frage nach dem Alleinstellungsmerkmal der öffentlichen Bibliotheken in der Zukunft ist damit beantwortet: Der Makerspace mit seinen sozialen, co-creativen und innovativen Zügen ist eine mögliche Antwort darauf. Und das Vier-Räume-Modell liefert dazu das notwendige Betriebssystem. Die hundert jährige Geschichte der Volksbibliotheken ist der Steinbruch der Legitimation auch der Bibliothek im 21. Jahrhundert. Aus den Trümmern "Leseförderung", "Dritter Ort", "Wissensvermittlung", "Alphabetisierung" oder "Medienausleihe" entsteht der partizipative Lernort, die kreative Zukunftswerkstatt, der innovative Macherort, wo das entsteht, was die Gesellschaft auch in Zukunft für ihre Alltagsbewältigung benötigt. Der Makerspace in der Bibliothek ist jener Ort, wo Menschen gemeinsam ihre Zukunft gestalten, wo nicht das Wissen sondern das Lernen im Mittelpunkt steht. Die Bibliothek agiert im Netzwerk und will Hilfestellung im Alltag vermitteln, nicht Wissen anhäufen und Kulturgüter sammeln. Sie ist mehr als nur eine analoge Wikipedia.         

Hermann Romer, Winterthurer Bibliotheken

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