Spielerisch die Lesekompetenz erhöhen

02.09.2019 | Von Hans Kaspar Schiesser | Aus den Bibliotheken | Leseförderung | Aus der Praxis - für die Praxis| Bibliotheksangebote| Generationenübergreifende Projekte| Schule und Bibliothek| Zielpublikum Kinder und Jugendliche | Bibliothek Herzogenbuchsee

Die Bibliothek Herzogenbuchsee hat ein äusserst erfolgreiches Lesementoring-Projekt lanciert.

Von Hans Kaspar Schiesser
Hans Kaspar Schiesser: Experte für verkehrsmittel-übergreifende Mobilität, Studium der Soziologie und der Politologie in Freiburg im Breisgau (M.A.), Journalist an verschiedenen Tages-zeitungen, 1983 bis 1988 Medien-sprecher bei der SP Schweiz, bis 2001 verkehrspolitischer Leiter beim VCS, bis 2013 Projektleiter beim Verband öffentlicher Verkehr VöV, Vielleser sowohl von Sachliteratur als auch Belletristik, von 2010 bis 2019 Präsident der Bibliotheksstiftung Herzogenbuchsee
Im August 2018 startete in Herzogenbuchsee ein Lesementoring-Projekt. Fast genau ein Jahr nach dem Start versammelten sich Mitte August 2019 in der örtlichen Bibliothek 90 Personen. Etwa ein Drittel waren Kinder, die eine Woche später mit der zweiten Staffel Lesementoring beginnen wollten, ein Drittel ihre Angehörigen und ein Drittel Lesementorinnen. Dabei konnte Projektleiter Peter Willen auch gerade eine Bilanz ziehen: nach 24 Lesepaaren, die im August 2018 begonnen hatten, sind es neu nun 32 Paare, ein Drittel mehr.
 
Das gemeinsame Lesen von Erwachsenen und Kindern in Lesepaaren ist also offensichtlich im ersten Berner Projekt ein Erfolg. Worauf ist dieser zurückzuführen? Wie muss er organisiert werden? Warum ist es bisher nur in zwei Kantonen, Aargau und Luzern, zu einer eigentlichen Lesementoring-Bewegung gekommen, nicht aber in grossen Kantonen wie Zürich oder Bern?
 
Warum hat Lesementoring keine Skeptiker?
Im Jahre zwölf des Smart-Phones, oder des Schlau-Phones, wie es ironisch auch genannt wird, gibt es homerische Diskussionen um die Zukunft von Bibliotheken, von Büchern und allem, was auf analoge Weise Wissen vermittelt oder mittels gedruckter Schrift unterhält. Der Tod von Buch und Bibliothek, von der Zunft digitalisierungs-begeisterter Schamanen längst verkündet, lässt zwar auf sich warten. Samt sogar kleiner Backlash-Bewegungen. Aber zweifellos ist es schwieriger geworden, die Digital Natives für Gedrucktes zu begeistern. Obwohl mittlerweile klar ist: Das Internet als scheinbar allwissende Quelle von Fakten und ebenso zuverlässiger Produzentin von Fake-News deckt das kulturelle Erbe der Menschen nur sehr selektiv ab. Wer eine leere Wohnung in Wallisellen oder die technischen Daten einer Ae 4/7-Lokomotive sucht, wird beim Googeln in reichem Masse fündig. Wer etwas über den Gümmenenkrieg wissen will, die Geschichte von Niederönz oder warum wir alle fleissig herumfliegen, obwohl das Klima ziemlich nahe vor dem Kollaps steht, muss sich mit bescheidenen Brosamen vom Tisch des digitalen Wissens und der Erkenntnis begnügen. Auf dem Web ist nur zu finden, was jemand in den letzten zwanzig Jahren dort hingestellt hat. Und das ist wesentlich weniger als in den hunderten von Millionen Büchern und Fachzeitschriften zu finden ist, die vor allem in den letzten vierhundert Jahren herausgegeben wurden.
 

Auch wenn sich das genaugenommen noch nicht herumgesprochen hat und wir uns immer noch in der Anfangsbegeisterung eines Systems befinden, das nicht nur breit gehackt, sondern auch massiv an zahlreichen Orten manipuliert wird, ist vielen klar: Ohne Lesen funktioniert auch die digitale Wissensgesellschaft nicht. Und gewohnt sein Gedrucktes zu lesen, könnte eine Rückversicherung gegenüber der eher zunehmenden Desinformation des Webs sein. Beide Erkenntnisse, die erste allgemein verbreitet, die zweite eher beim kritischen liberalen Bürgertum, lassen nur den einen Schluss zu: Unsere Kinder müssen gut lesen können. Auch wenn einige von ihnen in den ersten Bilderbüchern nicht mehr zu Blättern gewohnt sind, sondern die Bilder wie auf dem Handy von links nach rechts oder umgekehrt wischen wollen.
 
Lesenlernen hat auch deshalb keine Kritiker, weil mittlerweile vielen Eltern dämmert, dass die Sprache auf elektronischen Medien nicht sonderlich zum Kreativen, sondern zu Geschwindigkeit und Banalität neigt. Im Gegensatz zum Gedruckten. Also kann es nur gut sein, wenn neben der Schule auch andere Institutionen helfen, Lesen zu dem zu machen, worauf es bis zum iPhone 1 eine Art Monopol hatte: Das Abenteuer im Kopf sowie Wissens- und Unterhaltungszusammenhänge zu schaffen, die länger als die 90 Minuten eines Spiel- oder Dokumentarfilms dauern. 
 
Und wenn dieses Leselernen-Helfen dann noch kostenlos zur Verfügung steht – umso besser. Was bedeutet, dass Lesementoring, das eine solche Hilfe darstellt, nicht nur immer offizielle Unterstützung, sondern auch meist gute Chancen auf Sponsoring-Beträge hat.
 
Zusammen, nacheinander oder im Wettstreit
Was sich genau zwischen dem Kind beim Lesementoring und der Lesementorin abspielt, ist völlig offen und dem Lesepaar überlassen. Wichtig ist bei den meisten bloss, dass sie in die 45 gemeinsamen Minuten Abwechslung reinbringen. Da beginnt etwa das Kind mit dem Lesen eines Textes aus „Räuber Hotzenplotz“, und nach fünf Minuten macht die Mentorin (leider gibt es fast keine Mentoren) weiter. Anschliessend spielen sie zusammen zehn Minuten „Stadt, Land, Fluss“, machen dann mit Hotzenplotz weiter, um nach zehn Minuten aus einem Witzbuch vorzulesen und zu versuchen, die Witze in Mundart zu übersetzen und lebendig zu erzählen.


In Herzogenbuchsee haben Kinder auch beim Globus-Spiel gelernt, wie man „Bordeaux“ ausspricht, und die Mentorin weiss heute, wo Vanuatu liegt. Kinder mit Anfangsproblemen dürfen auch zeichnen. Langsam führt dann die Mentorin das Kind übers Benennen der Bildteile zum Schreiben und zum Lesen. Kind und Mentorin können also miteinander lesen, wie Tick, Trick und Track sprechen, also simultan, sie können nacheinander vorlesen, oder sie können im Wettstreit lesen und versuchen, sich spielerisch aus dem Konzept zu bringen.
 
Die Kinder dürfen die Lesetexte selbst auswählen. Aber zur Sicherheit sollte die Mentorin einen Buch-Vorschlag parat haben. Bei älteren Kindern, und das Angebot in Herzogenbuchsee reicht von der zweiten bis zur sechsten Klasse,  wechseln sich Mentorin und Kind in der Buchauswahl meist ab, beide profitieren also von Angeboten, die sie selber nicht zwingend kennen.
 

 
In manchen Schweizer Mentoring-Orten wird in den Schulhäusern gelesen, oft in den Schulbibliotheken, in Herzogenbuchsee gerade in der Bibliothek selbst, die dafür drei oder sogar vier Stockwerke anbieten kann. Wenn die Bibliothek geöffnet ist, so die Spielregel, dürfen es auch bloss zwei Paare sein. Montags, wenn die Biblere offiziell zu hat, müssen es drei Paare sein, und Türen, so vorhanden, dürfen nicht geschlossen sein. Störungen durch den Lärm der anderen sind vernachlässigenswert, der „Kampf“ um die schönsten Leseorte und die weichsten Sessel in der Biblere hingegen ist Teil des Spiels.
 
Organisationsaufwand: erheblich, aber machbar
Wer könnte denn nun privates, milizmässiges Lesementoring in einer Ortschaft oder einem Schulbereich organisieren? Hilfreich ist eine Kern-Gruppe von drei bis fünf Leuten, meist RentnerInnen, welche über unterschiedliche Neigungen und Fähigkeiten verfügen.

Zur Checkliste ihrer Aufgaben gehören:
  • Finden eines geeigneten Ortes fürs Lesen
  • Überzeugen der Lehrerschaft, in der Schule (circa im Mai/Juni) Werbung für das Angebot zu machen
  • Produzieren von Flugis, Prospekten, Medien-Texten und Inseraten
  • Organisieren von Sponsoren
  • Einrichten einer Anlaufstelle, telefonisch und mailmässig
  • Suche nach Mentorinnen und Mentoren, mit Mund-zu-Mund-Propaganda und über Medien
  • Organisieren einer ein- bis zweitägigen Ausbildung für die Mentorinnen zu Themen wie Kinder-und Jugendliteratur, Sprachspielen, Umgang mit fremden Kulturhintergründen, Vorlesetechnik, Motivation von Kindern
  • Veranstalten eines gemeinsamen Abends mit Kindern, Mentorinnen und Eltern (siehe ersten Absatz)
  • Organisieren von Erfahrungsaustausch-Möglichkeiten der Mentorinnen (etwa nach der Hälfte des Lesejahres), am ehesten ein oder zwei Meetings
 
Die aufwändigste Aufgabe besteht darin, das Matching zwischen Kindern und Mentorinnen zu managen. Dabei geht es nicht darum, die charaktermässig „richtigen“ Paarungen zu finden, denn die Mentorinnen sind meist flexibel, als vielmehr gemeinsame Termine zu fixieren und dabei zu berücksichtigen, dass es zwei oder drei Paare sein müssen, die gleichzeitig lesen. Erfahrungsgemäss ist der Montag der begehrteste Tag. Freitags findet sich manchmal keine genügende Zahl an Paarungen. In Herzogenbuchsee beginnt die erste Stunde um 15.20 Uhr (bis 16.05) und die zweite um 16.20 Uhr. In der Saison 2019/2020 werden allein am Montag dann um 15.20 sechs Lesepaare und um 16.20 Uhr sogar sieben gemeinsam beginnen. Gelesen wird im Übrigen nur während der Schulzeit; es kommen also so um die 35 bis 39 Lektionen pro Jahr zusammen. Der Startschuss fällt zwei Wochen nach dem Schulbeginn im August.
 
 
Mit benachteiligten oder mit hochbegabten Kindern?
Wenige Diskussionen haben das Projektteam im Vorfeld so beschäftigt wie die Frage, was für Kinder denn im Falle einer übergrossen Anmeldezahl vorzuziehen seien? Die benachteiligten Kinder, etwa solche ohne deutsche Muttersprache? Oder solche besonders interessierter Eltern? Und wie soll mit der Anmeldung Hochbegabter umgegangen werden? 
 
Schliesslich gab es einen Grundsatzentscheid und den fast perfekt dazu passenden arithmetischen Zufall. Weil der Spass im Vordergrund zu stehen hat, beschloss das Team, im Zweifelsfall das Anmeldedatum zu Rate zu ziehen: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. In der Praxis kamen im zweiten Jahr etwa vier Kinder vor allem deswegen nicht zum Zug, weil sie nur ein einziges mögliches Lesedatum angegeben hatten, das nicht mit einem freien Termin einer Mentorin koordiniert werden konnte. Ebenfalls zurückzustehen hätten die Zweit-Kinder aus Familien, die mehrere Kinder anmeldeten.
 
Nach einem Jahr waren die Mentorinnen der benachteiligten Kinder ebenso begeistert wie diejenigen, die mit Hochbegabten lasen. Die benachteiligten Kinder machten die sichtbarsten Fortschritte, die Hochbegabten forderten die Mentorinnen am meisten und schufen viele spannende Situationen spielerischer Wettbewerbe. Eine Präferenz soll damit für das Lesmentoring Herzogenbuchsee auch in Zukunft nicht formuliert werden. 

Und wo stecken die Schwierigkeiten?
Beim Kennenlernabend hat man als Beobachter drei Eindrücke: Bei gewissen Eltern-Kind-Gruppen scheint es so, dass das Kind sich freut, die Mutter (auch da kommen Väter selten) eher skeptisch ist. Bei andern ist es umgekehrt und das Kind muss erst noch überzeugt werden. Ideal ist natürlich, wenn Eltern und Kind beiderseits motiviert beim Lesementoring mitmachen wollen. Eine kleine Warteliste wird im Übrigen vom Herzogenbuchsee-Projektleiter Peter Willen als nicht nur negativ betrachtet: Eltern und Kinder wissen dann, dass Lesementoring etwas wert ist und nicht à discrétion zur Verfügung steht.
 
Einige Mentorinnen, in Herzogenbuchsee fünf, lesen mit zwei Kindern, natürlich getrennt, meist aber nicht unmittelbar hintereinander. Dieser von den meisten Rentnerinnen als eher stressig empfundene Ablauf ist eher Lehrerinnen oder ehemaligen Lehrerinnen zuzumuten.
 
 

 
Natürlich gibt es auch beim Lesementoring Kinder, die anfangs eher herumrennen möchten als lesen. Die eins-zu-eins-Betreuung kann das meist richten. Und es gibt auch Kinder, die unentschuldigt fehlen. In Herzogenbuchsee werden sie nach dem zweiten Mal ausgeschlossen – Warteliste!  Daneben hat das Projekt erstaunlich wenige Schwierigkeiten.
 
Allerdings gab es in den ersten sechs Jahren (solange gibt es das Projekt schon in Suhr/AG und Luzern) auch eine hilfreiche nationale Koordinatorin, Beate Krützer. Sie coachte die Koordinatoren, half den lokalen Gruppen und wurde dafür vom Bundesamt für Bildung professionell entschädigt. Letztes Jahr erlag sie einem Krebsleiden, und momentan gibt es noch keine Nachfolgerin. Lesementoring-Orte und solche die es werden wollen, müssen sich also untereinander vernetzen, per Google-Suche oder allenfalls über eine Plattform, die zum Beispiel auch biblioBE bilden könnte. Sie wäre auch hilfreich, um die Ausbildungen zu organisieren.
  
Für den Auftakt, also das erste Jahr, lohnt es sich, die Ausbildner und Ausbildnerinnen exklusiv zu organisieren, je für einen halben oder ganzen Tag zum Beispiel im Juni oder August. Ab dem zweiten Jahr stossen dann womöglich nur noch wenige neue Mentorinnen dazu, für die sich ein eigener Kurs nicht rechnet (die Kurse bilden den grössten Ausgabenposten des Projektes). Da bietet es sich an, sich einem anderen Kurs anzuschliessen oder ihn unter bereits etablierten Lesementoring-Orten gemeinsam zu organisieren.
 
Was gerade zu den Finanzen führt. Wenn, wie in der Stadt Luzern oder in Glarus, die Gemeinde – beziehungsweise Stadtverwaltung – das Mentoring selbst mit Festangestellten einrichtet, sind Finanzen meist kein Thema mehr, wenn das Mentoring erst einmal die Hürde des Exekutiventscheides geschafft hat. Freie Organisationsgruppen wie in Herzogenbuchsee müssen sich ihre finanzielle Grundausstattung jedoch auf dem Sponsorenweg suchen. Das ist mittelschwierig. Leicht ist es, weil jedermann Lesementoring sinnvoll und unterstützenswert findet. Schwierig ist es, weil Lesementoring den Stempel „Frauenprojekt“ trägt, und solche Projekte gewöhnlich weniger Geld bekommen als Männerprojekte, bei denen „Spielzeuge“ oder Ähnliches eine Rolle spielen (Fahrzeuge, Technik). Es lohnt sich jedenfalls, nach lokalen Stiftungen im Bildungsbereich Ausschau zu halten, Eliten-Clubs anzuzapfen oder sich um Firmensponsoring im Bereich Bildung zu bemühen. In Herzogenbuchsee kamen, beitragsmässig in absteigender Reihenfolge, total 9‘000 Franken zustande: Von der Stiftung Jugend Herzogenbuchsee, vom Gesundheits- und Fürsorgedepartement des Kantons, von Ingold Media (Verlag für Schulartikel) und vom Lions-Club. Im Auftaktjahr wurden davon 7‘000 Franken benötigt.
 
 
OrganisatorInnen und Mentorinnen arbeite(te)n ehrenamtlich. Und sie tun gut daran. Wie hat es doch der Philosoph Ludwig Hasler kürzlich in der Berner Zeitung ausgedrückt: «25 Jahre (nach der Pensionierung) ausruhen? Eine bescheuerte Perspektive. Kein Wunder steigt ab 65 zweierlei: Alkoholismus und Depression. Der Mensch ist ein „exzentrisches“ Wesen. Er muss etwas vorhaben. Nur mit sich selbst hält er es schlecht aus.» Ein sinnvolles Erziehungsprogramm wie Lesementoring vorzuhaben, das auch noch Spass macht und jung hält, ist nicht die ungeeignetste Idee für die letzten 25 Jahre.
 
 

Hans Kaspar Schiesser
Gemeindebibliothek Herzogenbuchsee und Umgebung
 
 
Kontakt:
Peter Willen, 062 961 58 87 oder Hans Kaspar Schiesser, 062 961 10 19 oder Bibliothek Herzogenbuchsee, 062 961 16 80; bibliothek@herzogenbuchsee.ch 
 
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