Innovation ist nicht auf die Stadt beschränkt!

24.10.2020 | Von Nicole Lehmann | Benutzung | Organisation | Raum und Infrastruktur | Aus der Praxis - für die Praxis| Bibliotheksentwicklung| Bibliotheksförderung| Dienstleistungen| Einmalige Beiträge| Kantonale Unterstützungsbeiträge| Kundenfreundlichkeit| Kundenorientierung| Öffnungszeiten| Open Library| Zugänglichkeit | Schul- und Gemeindebibliothek Grosshöchstetten

Neben Chur ist die Bibliothek Grosshöchstetten die einzige Open Library der Schweiz!

Von Nicole Lehmann
Nicole Lehmann, 38 Jahre alt, seit bald 10 Jahren Leiterin der Bibliothek Grosshöchstetten, ist verheiratet, Mutter zweier Kinder, Leseliebhaberin und Betreiberin eines Blogs.
Die Bibliothek Grosshöchstetten beweist: Innovation ist nicht auf die Stadt beschränkt. Als erste Bibliothek im Kanton Bern und als zweite Bibliothek in der Schweiz (!) hat sie sich in eine Open Library verwandelt und ihre Öffnungszeiten stark erweitert: Neu kann sie von sechs Uhr morgens bis elf Uhr nachts genutzt werden – und das 365 Tage im Jahr.

Bibliotheksleiterin Nicole Lehmann berichtet über die Realisierung des innovativen Projekts, das vom Kanton Bern mit einem einmaligen Finanzierungsbeitrag unterstützt wurde:

Vor ein paar Jahren musste die Bibliothek Grosshöchstetten das Schulhaus verlassen und in ein externes Gebäude ziehen. Wir waren skeptisch, was den Umzug betraf. Werden unsere Kundinnen und Kunden weiterhin zu uns finden? Und wird die Schule die Bibliothek auch künftig regelmässig besuchen? Unsere Skepsis erwies sich jedoch als unbegründet: Unsere bestehenden Kundinnen und Kunden blieben uns treu und der neue Standort bescherte uns sogar zahlreiche Neuzugänge, auch weil jetzt besser ersichtlich war, dass die Bibliothek keine reine Schulbibliothek ist.
 

Am neuen Standort haben wir grosse Frontfenster und man sieht von draussen, wenn in der Bibliothek gearbeitet wird. Da wir die Eingangstüre anfänglich nicht abschlossen, kam es immer wieder vor, dass Personen die Bibliothek ausserhalb der Öffnungszeiten betraten, mit der Begründung, dass sie nicht während den Öffnungszeiten zu uns kommen könnten und wir ja sowieso am Arbeiten seien.
 
Das machte uns klar, dass die Leute heute je länger je weniger bereit sind, Einschränkungen zu akzeptieren. Jeder möchte seine Sachen dann erledigen können, wenn er Zeit und Lust dazu hat. Und unsere Öffnungszeiten waren wirklich nicht auf die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung zugeschnitten: die Bibliothek wurde jeweils um 17.30 Uhr geschlossen und war nur einmal pro Woche am Abend geöffnet.
 
Wir fingen an, über mögliche Anpassungen nachzudenken. Als ich dann einen Bericht über die Eröffnung der Open Library in Chur las, dachte ich mir: Wenn eine Open Library in der Stadt Chur möglich ist, sollte dies doch auch in einem Dorf möglich sein! Kurzerhand kopierte ich den Bericht aus Chur und kontaktierte den zuständigen Gemeinderat, der sich für meine Pläne aufgeschlossen zeigte und mir den Auftrag gab, Offerten einzuholen. Das Echo der anderen Gemeindevertreter wechselte von zuerst skeptisch und zurückhaltend zu begeistert.
 
In der Folge wurde intensiv diskutiert, was alles geändert und angepasst werden sollte. Wir waren uns schnell einig: Benötigt würde natürlich ein elektronisches Schliesssystem mit Badges sowie ein Selbstausleihe-System und das Licht müsste via Bewegungsmelder gesteuert werden. Auf ein Gate wollten wir allerdings verzichten.
 
Als der entsprechende Antrag an den Gemeinderat geschrieben und eingereicht war, konnten wir etwas aufatmen. Gleichzeit mussten wir aber zwei weitere Dossiers zusammenstellen, denn wir wollten zusätzlich je einen Finanzierungsbeitrag beantragen beim Förderfond der BEKB und beim Kanton Bern, der innovative Bibliotheksprojekte finanziell unterstützt. (Vielen Dank für die Unterstützung, liebe Aline Yeretzian!)
 
Der Antrag an die Gemeinde wurde bewilligt und sowohl der Kanton als auch die BEKB sagten uns ihre Unterstützung zu. Also begannen wir im Januar 2020 mit der Planung für die Umsetzung.
 
Anschaffungen und Installationen
Wir haben uns für eine einfache Selbstausleih-Variante entschieden. Dafür musste der Elektriker diverse Anschlüsse erstellen. Unter anderem musste z.B. der Badge-Leser beim Eingang mit dem PC-System verbunden werden. Da wir eine ganz normale Tür haben und keine automatische Schiebetür, musste ausserdem ein passendes Schloss gefunden und eingebaut werden. Auch wurde das Licht auf Bewegungsmelder umgestellt. Da wir unsere Medien mit RFID-Etiketten versehen wollten (was nicht unbedingt nötig gewesen wäre), mussten wir für die Ausleihe auch passende RFID-Platten kaufen. Etwas vergessen hatten wir die Lizenzen für das Ausleihprogramm. Diese mussten angepasst werden, was mit Kosten verbunden war und unsere Ausgaben dauerhaft erhöhen wird.
 

Sicherheit
Das Thema Sicherheit haben wir gründlich diskutiert. Kontrolle oder Vertrauen war die Frage. Da wir bis jetzt keine Probleme mit Diebstählen hatten, beschlossen wir, auf Vertrauen zu setzen und auf ein Gate zu verzichten. Schliesslich hätte dieses unsere Ausgaben nochmals um CHF 10'000.00 erhöht. Auf Kameras haben wir ebenfalls verzichtet. Badges werden ausschliesslich an Kundinnen und Kunden ab 18 Jahren abgegeben. Daher besteht unseres Erachtens kein Vandalismus-Risiko, denn schliesslich befinden sich diese in «ihrer» Bibliothek. Und dank dem Badge-Leser am Eingang können wir sehen, wer um welche Zeit die Bibliothek betreten hat. Von Donnerstag bis Samstagabend patrouilliert zudem eine Hundestaffel der Securitas im Ort. Bis jetzt funktioniert unser Konzept wunderbar und wir hoffen, dass es auch so bleiben wird.
 
Kosten
Die Gesamtkosten für die Umstellung betrugen rund CHF 40'000.00. Das ist zwar ein stattlicher Betrag, die getätigten Investitionen bringen aber auch einen beträchtlichen Mehrwert: Dank der Umstellung konnten wir unsere Öffnungszeiten von knapp 10 Stunden auf 119 Stunden pro Woche erhöhen und unsere Kundinnen und Kunden können die Bibliothek täglich von 06.00 bis 23.00 Uhr nutzen – und zwar an 365 Tagen im Jahr.
 
Stolperfallen
Im Nachhinein war Corona für uns gar nicht so schlecht. Während des Lockdowns konnten wir unsere Bücher mit den RFID-Klebern versehen und viele Kinderkrankheiten ausmerzen. Diese gab es nämlich, vor allem beim Schliesssystem. Bis unsere Tür wirklich funktionierte, verstrich mehr Zeit als eingeplant. Auch das Netzsystem hatte ein paar Aussetzer und musste mehrmals neu gestartet werden. In der Zwischenzeit konnten die Probleme aber behoben werden. Auch beim Transfer der Datensätze auf die RFID-Kleber kam es zu ein paar Fehlern, die erst im normalen Bibliotheksalltag auffallen und nun nachträglich ausgebessert werden müssen. Und natürlich tauchen immer wieder einmal Fragen auf, die geklärt werden müssen. Das wird sicher noch ein paar Wochen so bleiben.
 
Resonanz
Das Open Library-Angebot besteht nun seit einigen Wochen und das Echo darauf ist überaus positiv. Auch ältere Personen interessieren sich dafür, unter anderem weil es ihnen in Zeiten von Corona ermöglicht, die Bibliothek zu besuchen, wenn es keinen Besucheransturm hat.
 
Wer vom Open Library Angebot profitieren möchte, erhält von uns eine kurze Einführung. Wenn möglich halten wir die Einführungen an den Randstunden der bedienten Öffnungszeiten ab, mit Gruppen von 3-4 Personen. Ist ein Bibliotheksbesuch während dieser Zeit für jemanden nicht möglich, legen wir einen anderen Termin fest.
 
Wir freuen uns über alle Kundinnen und Kunden, die sich ausserhalb der bedienten Öffnungszeiten in die Bibliothek begeben – und es sind viele. Das Wochenende wird rege genutzt, aber auch die Zeiten zwischen 18.00 und 21.00 Uhr.
 
 
Zukunft
Wir wünschen uns, dass möglichst viele Personen von unserem Open Library-Angebot profitieren können und machen auch aktiv Werbung dafür. Aktuell sind wir dabei, die in der Gemeinde ansässigen Firmen anzuschreiben, damit diese ihre Mitarbeiter/-innen über die erweiterten Öffnungszeiten informieren. Wir planen aber auch, ausserhalb der Gemeinde Werbung für die Open Library zu machen, denn um dieses Angebot zu nutzen, muss man nicht in Grosshöchstetten wohnhaft sein. Wir hatten auch schon mehrmals Besuch von Bibliotheken, die sich für unser Betriebskonzept interessieren. Das deutet darauf hin, dass Chur und Grosshöchstetten schon bald nicht mehr die einzigen Open Library Bibliotheken sein werden.
 
Nicole Lehmann
Leiterin Bibliothek Grosshöchstetten
 
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Nicole Lehmann ist begeisterte Leserin. Sie liest gerne am Meer, im Schnee – und auch sonst überall. Neben ihrer 30%-Anstellung als Leiterin der Bibliothek Grosshöchstetten betreibt sie den Blog Herzensangelegenheitbuch.

 

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