Interkulturelle Bibliotheksarbeit – auch für kleinere Bibliotheken ein Thema!

16.01.2019 | Von Silvia Heizmann | Bestand | Aus den Bibliotheken | Angebote für anderssprachige Personen| Aus der Praxis - für die Praxis| Bibliothek und Integration| Bibliothek und Migration| Interkulturelle Bibliotheksarbeit

Fünf Absolventinnen des letztjährigen SAB-Grundkurses zeigen, wie sich auch kleinere Bibliotheken der kulturellen Diversität (weiter) öffnen können.

Von Silvia Heizmann
Silvia Heizmann ist an einem interkulturellen Frauentreffpunkt und in einer interkulturellen Bibliothek tätig und betätigt sich als Mondomedia-Fachfrau. Sie studierte Ethnologie, Psychologie und Philosophie und betätigte sich u.a. als Betreuerin an einem ethnologisch-psychologischen Zentrum, als wissenschaftliche Assistentin und als Projektleiterin in den Bereichen Sozialforschung, Evaluation, Innovation, Gesundheitsförderung und Chancengleichheit.
Jede dritte Person in der Schweiz hat einen Migrationshintergrund. Kulturelle Vielfalt ist längst auch in kleineren Gemeinden Realität geworden. Die meisten der Zugewanderten sind fremdsprachiger Herkunft und wachsen in mehreren Sprachen gleichzeitig auf. Interessanterweise wird der Erwerb einer neuen Sprache begünstigt durch gefestigte Grundlagen in der Erstsprache. Bibliotheken haben hier eine wichtige Aufgabe, wenn sie sich als Dienst an der Gemeinschaft verstehen und die Bibliothek als niederschwelligen Ort der Begegnung, der Integration und Medienvermittlung für alle Bevölkerungsgruppen betrachten. Wo aber können kleine und mittlere Bibliotheken interkulturell aktiv werden? Was können Zugewanderte für die Bibliothek tun? Fünf Absolventinnen des Berner SAB-Grundkurses sind das Thema in ihren Bibliotheken ganz unterschiedlich angegangen; sie hatten auch sehr verschiedene Ausgangslagen. Gemeinsam ist den fünf jedoch eine vorgängige Recherche der demografischen Daten der Gemeinde. Weitere wertvolle Informationen erhielten sie durch Gespräche mit Fach- und Schlüsselpersonen. 
 
Portugiesische Community in Zermatt
Silvia Burgener Bächler und Karin Biner-Perren arbeiten beide in der Zermatter Gemeinde- und Schulbibliothek. Sie wurden von einer portugiesischen Lehrperson für heimatliche Sprache und Kultur (HSK) angefragt, ob sie auch Bücher in ihrer Sprache zum Ausleihen hätten. Vor allem die Kinder sollten vermehrt zum Lesen in portugiesischer Sprache angeregt werden, um die Grammatik in ihrer Erstsprache zu festigen. Im touristischen Zermatt stammt jede fünfte Einwohnerin und Einwohner aus Portugal, im Nachbardorf Täsch sind es sogar über 40 Prozent. In den Zermatter Schulen hat es ebenso viele portugiesisch- wie deutschsprachige Kinder. Gründe genug, die in Zermatt und Umgebung niedergelassene portugiesische Bevölkerung als neue Zielgruppe zu gewinnen.
 
Aus Gesprächen mit einer Mitarbeiterin der Integrationsförderung, einer HSK-Lehrperson und der Präsidentin des portugiesischen Sprach- und Kulturvereins machen die beiden Bibliothekarinnen den Medienbedarf aus. Recherchen zum Bibliothekswesen und Bildungssystem in Portugal liefern weitere wichtige Informationen. Zum Beispiel, dass nach der Diktatur 1974 Analphabetismus weit verbreitet war, weil nur die wenigsten Zugang zum elitären Schulsystem hatten und erst in den 90er-Jahren eine obligatorische neunjährige Schulpflicht umgesetzt wurde. Das bedeutet, dass viele der portugiesischen Zugewanderten der ersten Generation eine vergleichsweise geringe Schulbildung mitgebracht haben.
 
Ein portugiesisches Bücherbuffet
Die beiden Zermatter Bibliothekarinnen bringen ihre Erkenntnisse aus der Bedarfsabklärung aktiv in die Zusammenarbeit mit Bibliomedia ein und entscheiden sich beispielsweise dafür, einen Teil der portugiesischen Bücher in einfacher Sprache zu beziehen. Um das neue Angebot bekannt zu machen, wird ein ganztägiger Anlass für die portugiesischsprachige Bevölkerung organisiert. Zunächst besuchen sämtliche HSK-Klassen gestaffelt die Bibliothek, abends findet ein Bücherbuffet statt mit portugiesischen Häppchen. Bücher anstelle von Tellern sollen Appetit aufs Lesen machen:
 
Ein portugiesisches Bücherbuffet (Foto: Katrin Affolter)
  
Der Anlass wurde über mehrere Kanäle gut beworben und stösst auf äusserst grosses Interesse. Auch die Behörden sind vertreten und sehr angetan vom Projekt. Geplant sind weiter regelmässige Erzählstunden der HSK-Lehrperson und bei anhaltendem Interesse eine Erhöhung des portugiesischen Bestandes. In den Gemeindepublikationen wird ausführlich über das Projekt berichtet (Zermatt inside 2018/2 (pdf), S.13, Täscher Gugger Nr. 20 (pdf), S.6).
 
Knapp ein Jahr nach Projektstart zeigt sich, dass das portugiesischsprachige Publikum nicht nur Medien in portugiesischer, sondern auch in deutscher Sprache ausleiht. Und vor allem Kinder haben die Bibliothek als Ort zum Verweilen und zur Überbrückung zwischen Schul- und HSK-Unterricht entdeckt. Um als Bibliothek nicht in Vergessenheit zu geraten, so das Fazit der beiden Bibliothekarinnen, sind jedoch regelmässige Angebote und Veranstaltungen für das neue Zielpublikum wichtig und für die kommenden Monate bereits geplant.

Englisch und Französisch in Grossaffoltern
In der zweiten SAB-Abschlussarbeit thematisieren die drei Verfasserinnen die Bibliothek als dritten Ort. Sie nehmen auf, dass solche informelle öffentliche Begegnungs- und Verweilorte eine wichtige Rolle für das Funktionieren einer Gesellschaft haben. Indem sie Fremdsprachigkeit explizit einbinden, möchten die Autorinnen einen Schritt Richtung Zukunftsbibliothek tun, so dass möglichst viele Menschen unterschiedlichster Herkunft und Sprache gern diesen Raum nutzen. Isabella Hübscher-Stalder von der Gemeindebibliothek Grossaffoltern beschreibt, wie in den letzten Jahren viele junge Familien in das ländliche Dorf zugezogen sind. Die demografischen Daten besagen, dass über 96 Prozent deutschsprachig sind. Die restlichen Sprachen verteilen sich auf 31 verschiedene Herkunftsländer mit jeweils nur sehr wenigen Angehörigen. Die Grossaffolter Bibliothekarin legt das Augenmerk deshalb auf eine Erweiterung des Bestandes um englische und französische Bücher, weil dies schon als Bedürfnis seitens der jüngeren Generation geäussert wurde. Ein kurzer Fragebogen, den Bibliotheksbesuchende und Schulklassen vor Ort ausfüllen, gibt Aufschluss über den Bedarf. Bei Bibliomedia wird je eine kleine vierteljährlich austauschbare englisch- und französischsprachige Kollektion bestellt. Die Neuerscheinungen werden jeweils im lokalen Nachrichtenblatt angekündigt. Das neue Angebot stösst auf rege Nachfrage. Die Anschaffung verschiedener Zeitschriften soll zum weiteren Verweilen in der Bibliothek einladen. Die Präferenzen werden im selben Fragebogen ermittelt; darunter sind auch Zeitschriften wie Geo und Geolino, die über andere Kulturen berichten.  
 
Nach gut einem halben Jahr wird das neue Spachangebot immer noch sehr geschätzt, vor allem auch von Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe (easy reader in Französisch) oder Jugendlichen, die beispielsweise Harry Potter in der englischen Originalsprache lesen. Wichtig sei, so die Bibliothekarin, dass das Fremdsprachenangebot, insbesondere nach dem Eintreffen einer neuen Bibliomediasendung, immer wieder neu beworben werde um das Publikum gluschtig zu machen. Geplant ist zudem eine französische oder englische Apérozeit, begleitet von einer Vorlesegeschichte in der entsprechenden Sprache.
 
Angebot in 18 Sprachen in Münchenbuchsee
Katrin Affolter von der Gemeindebibliothek Münchenbuchsee beschreibt, wie das Dorf in den vergangenen Jahren zu einer Berner Vorortsgemeinde geworden ist, in der inzwischen über 16 Prozent Menschen mit 78 verschiedenen Nationalitäten leben. Die Bibliothekarin möchte deswegen das bereits bestehende Fremdsprachenangebot in Französisch und Englisch um weitere Sprachen ausbauen. Sie bezieht sich auf die Bildungsstrategie der Gemeinde, in der festgehalten ist, dass nebst der schulischen Unterstützung fremdsprachiger Kinder und Jugendlicher weitere Integrationsmassnahmen nötig sind. Hier hat die Bibliothek die Möglichkeit, sich als Dienstleisterin zu positionieren. Anhand einer gezielten Umfrage bei den Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) stösst die Bibliothekarin auf sehr grosses Interesse und erfährt, welches Angebot an fremdsprachigen Medien und Veranstaltungen erwünscht ist. Sie stellt mit Bibliomedia ein Fremdsprachenpaket an Bilder- und Erstlesebücher in 18 Sprachen zusammen. Auf das neue Angebot wird mit einem mehrsprachigen Flyer bei verschiedenen Institutionen und in lokalen Mitteilungsblättern aufmerksam gemacht. (Buchsi-Info (pdf), S.27).
 
Foto: Silvia Burgener-Bächler
  
Anlässlich eines Apéros wird auch der Gemeinderat informiert. Geplant sind weiter Einführungen für die DaZ-Klassen und Geschichtenmorgen, an denen Eltern ihren Kindern in ihrer Herkunftssprache Geschichten vorlesen.
 
Dass die Bibliothek fremdsprachige Bücher anbietet – so das Fazit der Bibliothekarin acht Monate nach Projektstart – stosse auf jeden Fall auf Interesse. Die Leute fänden dieses Engagement der Bibliothek gut. Für das Projekt wichtig war auch die Teilnahme an einer Veranstaltung der KiTa, an dem die Bibliothek weiter auf ihr Angebot aufmerksam machen, Kontakte knüpfen und sich mit fremdsprachigen Eltern austauschen konnte. Geplant ist, weiterhin die Kontakte zu den Schulen, den DaZ-Lehrkräften und dem interkulturellen Frauentreff zu pflegen. 
 
Fremdsprachige Anlässe in Ostermundigen
Brigitte Burn von der Gemeindebibliothek und Ludothek Ostermundigen recherchiert ebenfalls zunächst den Kontext ihrer Bibliothek. In der ehemaligen Arbeitergemeinde der Agglomeration Bern wohnen 25 Prozent Menschen ausländischer Herkunft aus 98 Nationen. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund nutzen die Bibliothek und das bereits bestehende Angebot an Kinderbüchern in acht Sprachen. Die Bibliothekarin möchte einen Beitrag zur gesellschaftlichen Chancengleichheit leisten und auch für eher bildungsferne Erwachsene mit Migrationshintergrund ein Angebot aufbauen. Sie beabsichtigt deshalb, die Infrastruktur der Bibliothek für fremdsprachige Anlässe zur Verfügung zu stellen. Weiter plant die Autorin, gestützt auf die demografischen Daten und eine kleine Umfrage in den nähergelegenen Bibliotheken des Verbunds, portugiesische und tamilische Erwachsenenliteratur ins Angebot aufzunehmen. Sie vernetzt sich extern mit der Kulturbeauftragten der Gemeinde, der Informationsstelle für Ausländerinnen und Ausländer und der Interkulturellen Bibliothek Bern wie auch intern innerhalb des Bibliotheksverbunds. Der Start der Umsetzung ist auf Beginn des neuen Schuljahrs geplant.
 
Leider kommt dem Projekt eine Budgetkürzung dazwischen und auf die Beschaffung neuer Medien in den geplanten zusätzlichen und folglich auch bereits vorhandenen Fremdsprachen muss vorerst verzichtet werden. Aktualisiert und ausgebaut wird hingegen der Bereich deutsche Lernbücher, weil die Bibliothek von Drittnutzerinnen, die Deutschkurse besuchen, immer wieder darauf angesprochen worden ist. Dieses neu ausgebaute Angebot wird von fremdsprachigen Frauen rege genutzt. Auch die Einführung des monatlichen Sprachcafé Französisch ist ein grosser Erfolg geworden und wird deshalb weitergeführt. Nicht zu unterschätzen ist zudem, dass die Bibliothekarin durch ihr erlangtes Wissen zu interkultureller Bibliotheksarbeit der Kundschaft mit vielen Informationen weiterhelfen kann, was sehr geschätzt werde.
 
Überzeugungsarbeit und Selbstbewusstsein
Geleitet von einer Haltung der Offenheit, zeigen die fünf Autorinnen, wie mittels Recherche- und Vernetzungsarbeit Ansätze interkultureller Bibliotheksarbeit gefunden und umgesetzt werden können. Mit ihren Projektvorhaben sind die fünf durchweg auf grosses Interesse gestossen. Wichtig ist, sich des Themas auch längerfristig anzunehmen, sich von einstweiligen Rückschlägen nicht schrecken zu lassen und interkulturelle Bibliotheksarbeit als Teil des Auftrags zu verstehen und zu verankern. Interkulturelle Bibliotheksarbeit ist eine Querschnittsaufgabe und betrifft neben dem Dienstleistungsangebot weitere Ebenen wie das Selbstbild der Bibliothek, die Organisation und die innere Haltung des Personals. Die Autorinnen erwähnen denn auch, wie wichtig Überzeugungsarbeit manchmal auch innerhalb des eigenen Bibliotheksteams war. Als fundamental für ihre Vorhaben nennen sie weiter die Umfragen und Kontakte zu den oft hochmotivierten Schlüsselpersonen. Mit deren Hilfe konnten viele Synergien geschaffen werden, um so dem Ziel einer Bibliothek als offene, tolerante und vielsprachige Begegnungszone etwas näher zu kommen. Indem sie selbstbewusst die Behörden einbindet und ihren Beitrag zur sozialen Inklusion deutlich macht, kann die Bibliothek an gesellschaftlicher und politischer Legitimation nur gewinnen.
 
Silvia Heizmann, Sozialanthropologin und Mondomediafachfrau

Dieser Artikel wurde erstmals in einer kürzeren Form im SAB-info 4/18 publiziert.
 
Mondomedia – offene Bibliotheken
Mondomedia wird getragen von Baobab Books, Bibliomedia und Interbiblio. Mondomedia fördert das Bewusstsein und Fachwissen für die Integrationsarbeit in öffentlichen Bibliotheken mit Aus- und Weiterbildung, Fachberatung und Materialien. Anregungen zu interkultureller Bibliotheksarbeit bieten die Checkliste, die Literatur- und Linkliste, die Bezugsquellen, Projektideen und Argumentarien, alles abrufbar auf www.mondomedia.ch.
 
 
 


Besprochene Arbeiten:
  • Biner-Perren, Karin, Burgener Bächler, Silvia. Portugiesische Bevölkerung als neue Zielgruppe. 2018.
  • Affolter, Katrin, Burn, Brigitte, Hübscher-Stalder, Isabella. buch | wORT | kultur. Neues Fremdsprachenangebot in drei verschiedenen Bibliotheken. 2018.
(Kontakt zu den Autorinnen via Studienleitung des Grundkurses SAB Bern)
 

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