Bücher statt Kleider, und Bilder à discrétion

16.05.2018 | Von Hans Kaspar Schiesser | Aus den Bibliotheken | Raum und Infrastruktur | Bibliotheksförderung| Dritter Ort| Einmalige Beiträge| Kantonale Unterstützungsbeiträge| Lesementoring| Öffnungszeiten | Bibliothek Herzogenbuchsee

Die Gemeindebibliothek Herzogenbuchsee und Umgebung hat für ihre Neuausstattung nach einem Umzug einen einmaligen Beitrag des Kantons bekommen.

Kann oder soll man/frau für Bibliotheken Bürgerproteste organisieren oder gar Volksinitiativen starten? Vor dieser Frage standen Stiftungsrat und Bibliothekarinnen der Gemeindebibliothek Herzogenbuchsee im Jahre 2014. Damals nämlich kündigte die Gemeinde der Bibliothek die Räume im geschichtsträchtigen Kornhaus im Dorfzentrum. Der Bau aus dem Jahr 1583, eines der schönsten noch erhaltenen Kornhäuser der Schweiz, hatte im zweiten Obergeschoss ein perfektes Ambiente für die Bibliothek geboten: 15’000 Medien inmitten spätmittelalterlicher Balkenkonstruktionen, eine Aussicht direkt ins Grüne des Dorfparks und dank Lift und behindertengerechter Toilette im Parterre des Kornhauses auch infrastrukturmässig auf dem neuesten Stand.
 
Vom Lebensmittel- zum Kleiderladen
Aber die Gemeinde benötigte die Räume neu für Büros ihrer – wie überall – gewachsenen Sozialabteilung. Also sollte die Bibliothek weichen. Das ging allerdings nicht ohne Widerstände ab. Die Bibliothekskundinnen und Kunden liebten die Räume – und alles andere – im Herzen des oberaargauischen Industriedorfes mit rund 7'000 Einwohnern. Von Bleibe-Anträgen an die Gemeindeversammlung über eine Volksinitiative bis zu zivilem Widerstand wurde alles diskutiert und auch alles verworfen, denn der Stiftungsrat befand, dass es bei einem grösseren Konflikt zwischen Bibliothek und Gemeinde nur Verlierer geben könne. Also machten sich die vier Frauen und die zwei Männer des strategischen Leitgremiums auf die Suche nach einem neuen geeigneten Lokal.
 
Das liess sich erst einmal ziemlich gut an, denn weniger als hundert Meter vom Kornhaus entfernt stand eine ehemalige Denner-Filiale seit längerem leer. Die Parterre-Situation, ein wunderbares Schaufenster, genügend Raum und ein massvoller Mietpreis stimmten optimistisch. Der Gemeinderat sprach 225'000 Franken für den Umzug, für die Renovation des ehemaligen Dennerladens und für die RFID-Einrichtung. Nur mit dem Vermieter begann es aus bis heute unerfindlichen Gründen nach kurzer Zeit zu hapern. Etwa weil die Bibliothek Teile ihrer Fläche an die Ludothek mit ein bisschen Kinderlärm abtreten wollte? Als jedenfalls massive Bedenken aufkamen wegen angeblich überbordender Velo-Parkierung (von Autos war nicht die Rede) und die Lärmimmissionen (!) der Biblere beklagt wurden, war nach einem halben Jahr Planung klar, dass die Denner-Filiale nun keine Option für Buchsis Bücherparadies mehr war.
 
Die Gemeinde musste schliesslich zur Kenntnis nehmen, dass geeignete Biblere-Standorte auch in einem grösseren Dorf nicht vom Himmel fallen und den Mietvertrag im Kornhaus stillschweigend zwei Mal verlängern. Dann aber tat sich mit der massiven Schrumpfung der Blackout-Kleiderladenkette eine faszinierende Möglichkeit auf: ein Bibliotheks-Standort am Rössliplatz, mitten im Dorf, dreihundert Meter vom Bahnhof und gut hundert von der Migros weg, ein historisches Gebäude mit grosszügigen Platzverhältnissen. Die berühmte Fabrikantenfamilie Moser, die auch legendäre Bahningenieure, Nationalräte und Bankiers hervorgebracht hatte, hatte an dieser repräsentativen Stelle im Dorf 1795 einen Wohnstock im Spätbarockstil erbaut. Als Amelie Moser als junge Witwe nach dem Tod ihres Mannes aus Java in die Heimat zurückkehrte, zog sie in diesen Wohnstock. Von dort aus organisierte sie in der Folge das ganze Feuerwerk an Sozialeinrichtungen, die den Ort vor allem in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als Pionierdorf für praktische Frauenemanzipation berühmt machten, inklusive exklusiver Bibliothek im «Kreuz». Als Amelie Moser 1925 starb, kam das Haus in den Besitz des Frauenvereins, den Amelie 1870 gegründet hatte. 1930 erweiterte man den Wohnstock in ähnlichem Stil dort, wo vorher die Pferdestallungen waren, um ein Geschäftshaus, bei dem die meisten Einheimischen kaum ahnen, dass es 135 Jahre jünger als Amelies Wohnhaus ist.
 
Bis zum Einzug der Bibliothek beherbergte das Geschäftshaus, das mittlerweile in Privatbesitz ist, mehrere Kleiderläden, mit Nähatelier im zweiten Obergeschoss, Räumen fürs Unterwäsche-Probieren im Untergeschoss und zwei grossen Verkaufsgeschossen dazwischen. Mit dem Segen der Gemeinde zog die Biblere im Herbst 2016 trotz beträchtlicher Mietkosten (46'000 CHF pro Jahr) in den ehemaligen Kleiderladen im Moser-Haus.

 

 
 
Die Bibliothek als Dritter Ort / Innovative Bibliotheksprojekte
Eigentlich hätte die Biblere am neuen, viergeschossigen Standort einen höheren Kredit für die Neueinrichtung gebraucht, da auch deutlich mehr Platz zur Verfügung stand. Und intern diskutierte man darüber, ob das tendenziell feuchte UG auszubauen oder einfach als Muffel-Kellergeschoss unbenutzt gelassen werden solle. Schliesslich entschied sich die Mehrheit für die Flucht nach vorn. Das UG sollte – sanft – zum Ausstellungs- und Lesungs-Raum ausgebaut werden, halt eben zulasten gewünschter neuer Regale im übrigen Teil.
 
 
In einer Mischung aus professioneller Beratung (Bibliotheksarchitektin Françoise Chevalier/Thun), grosszügigen Handwerkerleistungen des einheimischen Gewerbes und Milizarbeit auch des Stiftungsrates kam man mit dem Gemeindekredit fast punktgenau so hin, dass, wenn auch ohne Ausbau des zweiten Obergeschosses, dem ehemaligen Nähatelier, eine repräsentative Bibliothek eröffnet werden konnte.
 
 
 
Die Idee, die Biblere zu einem Dritten Ort zu machen, sie also nicht nur als öffentliches Bücherregal zu nutzen, sondern auch für Ausstellungen, öffentliche Veranstaltungen, als gemütlichen Verweil- und Leseraum und sogar ein bisschen als Spiel-Raum für Kinder, zeitigte fast sofortigen Erfolg. Die Nutzer- und Ausleihzahlen stiegen entgegen dem allgemeinen Trend in den letzten anderthalb Jahren wieder an. Im Untergeschoss wurden 2017 sechs Ausstellungen gezeigt, darunter eine mit Zbinden-Holzschnitten und Amiet-Bildern. Und im an sich unbenutzten ehemaligen Nähatelier gibt es die Sandspielecke einer externen Gruppe. Im Parterre kann man mit Blick auf das Dorf und zum Bahnhof hinunter beim Käffelen auch in SPIEGEL- oder Wohneinrichtungs-Heften schmökern, im UG gibt es sogar eine kleine fahrbare Küche, falls bei einer Vernissage Wienerli heiss gemacht werden sollten.
 
Dritte Orte haben es in sich, dass ihre Nutzung immer wieder in Frage gestellt wird und sich verändert. Während die Bibliothek, betreut von vier Bibliothekarinnen mit je rund 20 Prozent (bei 20 Stunden Öffnungszeit pro Woche), ihre vertraute Funktion offensichtlich zur Zufriedenheit der Besucherinnen und Besucher erfüllt, gibt es zu den Dritte-Ort-Funktionen immer wieder Diskussionen.
 
Welches Niveau sollen die Ausstellungen haben? Der Stiftungsrat sprach sich für eine Mischung aus professioneller und lokaler Kunst aus. Weil die Biblere halbwegs als Galerie funktioniert, bekommt sie als Zustupf zu den Mietkosten zwanzig Prozent des Verkaufserlöses von Kunstwerken. Bezeichnenderweise hat eine Lebenswerk-Ausstellung eines nicht-professionellen Einheimischen zum deutlich höchsten Ertrag für die Biblere (3'500 Franken) geführt. Verkäufe finden bei etwa zwei Drittel der Ausstellungen statt. Bei der Lina-Bögli-Gedenkausstellung im Sommer 2018 wird das natürlich nicht der Fall sein.
 
Wie weit soll sich die Bibliothek über ihr Kerngeschäft hinaus bei Dritte-Ort-Funktionen personell engagieren? Im Herbst startet die Bibliothek Herzogenbuchsee als erste Bernische Einrichtung das Lesementoring. Schülerinnen und Schülern der zweiten bis sechsten Klasse werden kostenlos und auf freiwilliger Basis in Ergänzung zum Leseunterricht in der Schule Lesestunden angeboten, bei denen vor allem der Spass am Lesen, am Erzählen, am Buch im Mittelpunkt steht. Drei Dutzend Erwachsene haben sich als MentorInnen gemeldet und werden nun aktuell ausgebildet. Mit etwa zwei Dutzend Lese-MentorInnen und ebenso vielen Kindern, meist solchen mit Immigrationshintergrund, wird man im August in der Bibliothek starten. Angedacht ist eine Lesestunde pro Kind und Woche.
 
Während die beiden Kernprojekte, Ausstellungsraum und Lesementoring, zumindest aus jetziger Sicht ein Erfolg zu sein scheinen, war das beim dritten kleinen Leuchtturmprojekt, der Sonntagsöffnung, nicht durchgehend der Fall. Bereits zwei Winter lang hat die Bibliothek jeweils sonntags drei Stunden ihre Türen geöffnet, aber mit eher bescheidener Nachfrage. Erfreulich ist, dass es oft jüngere Männer mit den Kindern in die Biblere zog, während ihre Frauen vielleicht zu Hause das anspruchsvolle Sonntagsmenü zelebrierten oder einfach auch mal chillen konnten. Aber die Frequenz blieb tief, sodass unsicher ist, ob man sich für einen dritten Winter nochmals fürs Öffnen am Sonntag zwischen zehn und ein Uhr mittags entschliesst.
 
Die Gemeindebibliothek Herzogenbuchsee in Zahlen
Die Bibliothek, die von etwa zehn Umlandgemeinden mit freiwilligen Beiträgen von insgesamt rund 11'000 Franken mitunterstützt wird, finanziert sich zu etwa 23 Prozent selber. Organsiert als Stiftung kann sie auch kleinere Beträge von lokalen Sponsoren wie den Kirchen oder Industriebetrieben akquirieren. Die Gemeinde Herzogenbuchsee übernimmt vom gesamten Budget von rund 210'000 Franken mit 150'000 Franken drei Viertel. Die Personalkosten betragen um die 80'000 Franken, für Medieneinkauf werden etwas über 30'000 Franken aufgewendet. Mit Kosten von 15'000 Franken ist der Informatikaufwand relativ teuer.
 
Auf der Basis von 2’500 Benutzerausweisen wurden im vergangenen Jahr 71'500 Medien ausgeliehen, knapp vier Prozent mehr als im Vorjahr. Der Bestandesumsatz liegt bei etwa vier Ausleihen pro Medium und stagniert. Ende 2107 umfasste der Bestand 17'400 Medien. Auf Empfehlung des Amtes für Kultur wird die Bibliothek den Anteil an Sachbüchern 2018 erhöhen und damit – hoffentlich – mehr männliches Publikum anziehen. Der oben erwähnte einmalige Beitrag des Kulturamtes ist vor allem für Kinder- und Jugendliteratur gedacht und passt perfekt zum Lesementoring-Projekt der Bibliothek.
 
Nebst Klassenführungen (es gibt in Herzogenbuchsee auch noch drei Schulbibliotheken) und klassischen Erzähl- und Värslistunden führte die Bibliothek 2017 um die 50 Events durch, von der Lesung mit Benedikt Weibel über die Durchführung des Neuzuzügeranlasses bis zu Zäme-Lisme- und Zäme-näie-Veranstaltungen. In den Biblere-Räumen treffen sich ausserdem zwei Lesekreis-Gruppen und im Untergeschoss fanden sechs Ausstellungen statt, eine mit einer Buchvernissage.
 
 
 
Hans Kaspar Schiesser
Präsident Bibliotheksstiftung Herzogenbuchsee
 
Mehr Informationen zur Bibliothek Herzogenbuchsee:
 
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Neustart am Rössliplatz mit Kunst und Selbstausleihe (BZ 14.09.2016) >
 
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