Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung in Bibliotheken

27.09.2022 | Par Markus Jost | Personnel | Inklusive Bibliothek

Felicitas Isler, langjährige Bibliothekarin und neue Weiterbildungsverantwortliche für Bibliotheken bei der PH Bern, befasst sich schon seit rund zehn Jahren mit dem Thema Inklusion in Bibliotheken. Sie gibt im Gespräch über ihr Herzensthema Auskunft.

Par Markus Jost
Felicitas Isler ist ursprünglich Primarlehrerin, war aber in den letzten 24 Jahren in verschiedenen Bibliotheken tätig, zuletzt an der UB Bern in der Bibliothek Münstergasse. 2014 schloss sie an der HTW Chur (heute FHGR) das Bachelorstudium in Informations-wissenschaft ab. Im November 2021 kehrte sie zu ihren beruflichen Wurzeln zurück und nahm eine Stelle als Schulische Heilpädagogin in Trimbach an. Seit August 2022 organisiert sie parallel dazu an der PH Bern als Dozentin mit Angebots-verantwortung Bibliothek die Weiterbildungen für Schul- und Gemeindebibliotheken im Kanton Bern.
Felicitas Isler, Sie sind eine der ersten Bibliothekarinnen in der Deutschschweiz, die sich intensiv mit dem Thema «Inklusion von Mitarbeitenden mit Beeinträchtigung in Bibliotheken» befasst hat. Was bedeutet der Begriff «Inklusion» eigentlich?
 
Das Wort Inklusion stammt vom lateinischen Verb «includere» (einschliessen). Der Begriff «Inclusion» fand zuerst im angloamerikanischen Sprachraum Verbreitung. Ausgangspunkt für Inklusion als Leitidee in der Behindertenarbeit waren in den sechziger und siebziger Jahren politische Aktionen und Initiativen von behinderten Menschen und ihren Angehörigen in den USA. Sie forderten Selbstbestimmung, rechtliche Gleichheit und die Anerkennung von behinderten Menschen als Bürgerinnen und Bürger, sowie soziale Gerechtigkeit und volle gesellschaftliche Teilhabe.
 
Was ist der Unterschied zwischen «Inklusion» und «Integration»?
 
Lange Zeit wurde im deutschsprachigen Raum ausschliesslich der Begriff «Integration» verwendet. Darunter wurde und wird verstanden, dass Menschen mit Beeinträchtigung in die Gruppe von Menschen ohne Beeinträchtigung «integriert» werden müssen. Sie werden aber dadurch als «integrierte» und nicht als gleichwertige Mitglieder dieser Gruppe verstanden. Mit dem Begriff «Inklusion» soll der Blick von diesem Zwei-Klassen-Denken abgewendet werden: Menschen mit Beeinträchtigung sollen durch «Inklusion» als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden.
 
Sie verwenden bei Ihren Ausführungen stets den Begriff «Menschen mit Beeinträchtigung» anstelle des eher verbreitenden Begriffs «Behinderte» oder «Menschen mit Behinderung». Wieso?
 
Auf den ersten Blick scheint «Behinderung» klarer definiert zu sein als «Beeinträchtigung». Doch wenn man sich näher damit befasst, wird erkennbar, dass auch dieser Begriff einem dauernden Wandel unterworfen und seine Definition keineswegs statisch und unumstritten ist: Um 1900 war das Wort «Behinderung» noch kein Begriff im heutigen Sinn. Es wurden die Begriffe «Krüppel» oder «Missgeburt» verwendet. Der selbst stark körperbehinderte Otto Perl war 1919 Mitbegründer des «Bundes zur Förderung der Selbsthilfe der körperlich Behinderten». Er beansprucht für sich die Urheberschaft des Begriffs «Körperbehinderter» anstelle von «Krüppel». Die Weltgesundheitsorganisation versteht heute unter Behinderung das «Ergebnis einer negativen Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren». Behinderung ist also keine alleinstehende «Eigenschaft» einer Person mit festen und messbaren Grössen, sondern immer das Resultat einer Beziehung.
 
Am 13. Dezember 2006 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die «UN-Menschenrechtskonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung» oder kurz «Behindertenrechtskonvention» (BRK). Sie trat im Mai 2008 international in Kraft. Was ist seither geschehen?
 
Seither wurde sie von über 150 Staaten ratifiziert und in Kraft gesetzt. In Österreich geschah dies 2008, in Deutschland 2009 und in der Schweiz 2014. Die Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit von Menschen mit Behinderungen, auch für Menschen, die während einer Beschäftigung eine Behinderung erwerben, durch geeignete Schritte, einschliesslich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um unter anderem Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Sektor zu beschäftigen. Da die meisten Bibliotheken durch die öffentliche Hand finanziert werden, finde ich, dass Bibliotheken diesbezüglich speziell in der Pflicht stehen.
 
Wie wurde die BRK in den unterschiedlichen Ländern umgesetzt?
 
Sowohl Deutschland als auch Österreich kennen rechtliche Beschäftigungsverpflichtungen in Form von Beschäftigungsquoten. Die Schweiz hingegen kennt keine solchen Quoten. Auch geniessen Beschäftigte mit Behinderung in Deutschland und Österreich verstärkten Kündigungsschutz, während dies in der Schweiz nicht der Fall ist.
 
Eine grundsätzlich andere Stossrichtung als die Einführung von Behindertenquoten verfolgt der Ansatz des Diversity Management. Was wird darunter verstanden?
 
Diversity Management meint den bewussten Umgang mit der Vielfalt der Beschäftigten als Chance und Ressource für ein Unternehmen. Dabei bezieht sich Vielfalt auf Kategorien wie Geschlecht, Alter, Klasse, Sprache, Ethnie, Behinderung, sexuelle Orientierung oder religiöse Zugehörigkeit. Der Ansatz geht davon aus, dass ein Unternehmen umso besser mit der Vielfalt in seiner Umwelt zurechtkommt, je grösser die Vielfalt im Unternehmen selbst ist. Diese Managementstrategie hat dieselben Wurzeln wie die Inklusionsbewegung. Auch sie entstand im Zuge der sozialen Proteste der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, als in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren verschiedene Minderheitengruppen ihren Kampf gegen Diskriminierung aufnahmen.
 
Wie muss Diversity Management umgesetzt werden, damit ein Unternehmen oder eine Institution davon profitieren kann?
 
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten nach ihren Stärken beurteilt werden, nicht nach ihren Schwächen. Denn ökonomisch interessanter als die «Disabilities» sind die «Abilities» aufgrund der Andersartigkeit. Diese bleiben jedoch beim Blick durch die «Normbrille» oft verborgen. Wissenschaftler haben herausgearbeitet, welche Rahmenbedingungen eine erfolgreiche Beschäftigung von Mitarbeitenden mit einer Beeinträchtigung fördern.
 
Welche?
 
Anpassungsfähige und flexible Arbeitsplatzgestaltung; personenorientierte, sich mitverändernde Aufgabenbündelung; Teamarbeit-/Teamaufgabe; Entfaltungsraum für komparative Kompetenzen; Flexibilisierung der Arbeitszeit; Abkehr vom fremd definierten Arbeitsgrad hin zum selbstverantwortlichen Leistungserbringungsgrad; Entkoppelung der Honorierung vom starren Stellenprofil hin zu flexiblen Aufgabenbündelungen: Die Lohnsysteme sollen weder die Stelle noch die Funktion honorieren, sondern die tatsächliche Aufgabenerfüllung. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, bekommen Unternehmen nicht bloss einen «Quotenbehinderten», sondern eine zwar andersartige, aber vollwertige Arbeitskraft.
 
Für Ihre Bachelorthesis mit dem Titel «Inklusion von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einer Beeinträchtigung in Bibliotheken in der Deutschschweiz» (2014, HTW Chur) haben Sie mit Bibliothekverantwortlichen aus öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken gesprochen. Welche Arbeitsplätze eignen sich besonders für Menschen mit einer Beeinträchtigung?
 
Eine Personalverantwortliche erklärte mir: «Es eignen sich eigentlich viele Aufgaben auch für beeinträchtigte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, obwohl man das vielleicht nicht denkt. So ist es zum Beispiel kein Problem, eine gehörlose Person an der Ausleihtheke zu haben, das Publikum stellt sich darauf ein. Für autistische Personen ist die Katalogisierung speziell gut geeignet, da sie so regelgeleitet ist. Es hängt aber immer in erster Linie von der Person ab, ob eine Aufgabe geeignet ist oder nicht, nicht von deren Beeinträchtigung. Es gibt Menschen mit derselben Beeinträchtigung, für welche dann doch ganz unterschiedliche Aufgaben geeignet sind. Man kann das nicht generalisieren.» Eine andere Bibliotheksverantwortliche erzählte mir jedoch auch von einer negativen Erfahrung. Sie sagte: «Wir hatten auch noch eine Vorpraktikantin für eine I&D-Lehre, doch sie konnte sich hier nicht einfügen, kam zu spät, ungepflegt etc., darum wurde dieses Vorpraktikum von der IV abgebrochen.»
 
Insgesamt überraschte mich aber, dass keine einzige personalverantwortliche Person fand, die Beschäftigung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einer Beeinträchtigung sei in erster Linie eine Belastung für den Betrieb. Im Gegenteil: Sie bewerteten diese Beschäftigungssituation grösstenteils sehr positiv: Acht von zehn Bibliotheken konnten gar ein Best-Practice-Beispiel nennen.
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