Die Bibliothek als Dritter Ort

19.02.2014 | Von Robert Barth | Benutzung | Raum und Infrastruktur

Wenn Bibliotheken im 21. Jahrhundert bestehen wollen, müssen sie neue Eigenschaften in den Vordergrund stellen.

Von Robert Barth
Robert Barth war Adjunkt an der Stadtbibliothek Winterthur, Leiter der Hauptbibliothek der Universität Zürich-Irchel, Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Bern (1987-2005) und Professor für Bibliotheks- wissenschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur (2005-2012). Seit seiner Pensionierung im Jahr 2012 widmet er sich hauptsächlich dem Reisen und seinen Lehraufträgen, u.a. an der SUPSI Lugano, HTW Chur und erteilt SAB-Kurse.

Als in den 1970er Jahren in der Schweiz die ersten grossen Einkaufszentren auf der grünen Wiese entstanden, war auch bei uns der „Dritte Ort“ geboren: Inszenierte Lebensräume, in denen man sich vorübergehend aufhält. Orte zwischen dem eigenen Zuhause (erster Ort) und der Arbeitswelt/Schule (zweiter Ort).  Familien, Jugendliche, Senioren treffen sich dort zum Einkauf, zur Unterhaltung, zum Essen und Trinken.
 
Unsere wissenschaftlichen Bibliotheken waren zu diesem Zeitpunkt noch Orte der Ruhe und Horte wertvollen Wissens. Und öffentliche Bibliotheken hatten den Charakter von „Hol- und Bring-Institutionen“, in denen man schnell Lesestoff aussuchte und wieder zurückbrachte. Die Öffnungszeiten waren kurz, oft waren sie über Mittag geschlossen.  Mit grosser Verspätung und vor allem angesichts des Verlusts des Informationsmonopols dank Internet machten sich auch öffentliche Bibliotheken in der Schweiz daran, sich zum Dritten Ort zu wandeln. Sie hatten erkannt, dass die bisher zentrale Bedeutung des Medienangebots schrumpft angesichts von vielfältigen anderen Bezugs- und Downloadmöglichkeiten. Die Bibliotheken müssen andere  Dienstleistungen ausbauen. Diesen Weg sind z. B. die Kantonsbibliothek Baselland in Liestal oder die Stadtbibliothek Winterthur gegangen. Eine flächendeckende Erscheinung ist das heute bei uns aber noch bei weitem nicht.
 
Theorie
Der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg hat den Begriff des „Dritten Orts“ geprägt. Stichwortartig ist das Phänomen durch folgende Eigenschaften charakterisiert, von denen die meisten auf Bibliotheken zutreffen  [1] :

  • Ein neutraler Ort, wo man kommen und gehen kann. Niemand spielt Gastgeber, alle fühlen sich zu Hause und wohl.
  • Der Ort ist leicht zugänglich und einladend. Man geht auch gerne allein hin.
  • Er wirkt von aussen einladend und hat ein niedriges (Zugangs-) Profil.
  • Er ermöglicht ein informelles Zusammenkommen.
  • Die Besucher finden sich regelmässig ein.
  • Die Institution wirkt ausgleichend auf Unterschiede zwischen Menschen. Keine Mitgliedschaft, nicht exklusiv.
  • Die hauptsächliche Aktivität ist das Gespräch, die Unterhaltung; die Atmosphäre ist spielerisch.
  • Die Institution vermittelt das Gefühl von “home-away-from-home”, eines zweiten Zuhauses.
  • Sie trägt zur lebendigen Gemeinschaft bei und fördert das Gefühl der Zugehörigkeit.
  • Die Menschen können „sich selbst sein“.

Bibliotheken als Dritter Ort
Wenn Bibliotheken im 21. Jahrhundert bestehen wollen, müssen sie neue Eigenschaften in den Vordergrund stellen. Das heisst namentlich:
  • eine hohe Aufenthaltsqualität und
  • ein breites Lern- und Bildungsangebot.
Bibliotheken entwickeln sich zu Orten des Aufenthalts. Sie sind Lernorte und Informationszentren und bieten Raum fürs Arbeiten sowohl alleine wie auch für Gruppen. Denn das Lernen und das wissenschaftliche Arbeiten erfolgt zunehmend im Team. Die Bedürfnisse der Benutzerinnen und Benutzer sind unterschiedlich: „allein aber nicht einsam“ wollen sie sein und wünschen sich eine „konzentrationsfördernde, ermutigende, ansteckende“ Atmosphäre,  in der „anregende Weite und konzentrierte Separation“ zugleich möglich ist. [2] Ein breites Spektrum an bequemen Arbeitsmöglichkeiten ist dazu Voraussetzung – bis hin zu Liegen und Sofas. 


Zum Lernort gehört auch der Bildung- und Animationsort. Die Bibliothek fördert die Auseinandersetzung mit Texten, Film, Theater, Musik. Die neuen „Idea Stores“ in London [3] arbeiten z.B. eng mit Bildungsinstitutionen zusammen, wie dies bei uns die Volkshochschulen sind. Sie bieten in ihren Räumen alleine oder in Kooperation Kurse und Schulungen an und verfügen über modernste technische Ausrüstungen, z.B. eine Medienwerkstatt. Dies sind wichtige Voraussetzungen für das  lebenslange Lernen, das die moderne Arbeitswelt fordert. 

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Damit ist angedeutet, dass die Bibliotheken auch aus der Isolation heraustreten müssen, in der sie sich gerade in der Schweiz befinden: Dies betrifft einerseits eine Kooperation mit Vereinen und Organisationen in der Gemeinde. Die Bibliothek ist der zentrale Ort für Veranstaltungen im Dorf. Andererseits muss die Zusammenarbeit mit Bibliotheken der Region intensiviert werden. Das gilt namentlich für den Erwerb elektronischer Medien, besonders der E-Bücher.
 
Bibliotheken haben auch die Funktion von sozialen Orten. Die Zahl der Menschen in der Schweiz, die alleine wohnen, wächst. Gab es 2005 rund 1.2 Mio. Einpersonenhaushalte, so soll sich deren Zahl bis 2030 auf 1.6 Mio. erhöhen. [4] Die Bibliothek ist der ideale Ort für Menschen, die andere zum Austausch treffen wollen – oder schlicht eine Atmosphäre suchen, in der sie ihren Interessen nachgehen können, denn nicht zuletzt: Die Bibliotheken gehören zu den ganz wenigen kostenlosen Aufenthaltsorten ohne Konsumzwang! Das breite Angebot an fremdsprachigen Medien und Programmen macht  die Bibliothek auch zu einem Ort der sozialen Integration für Einwohner mit Migrationshintergrund.
 
Wollen Bibliotheken auch für Jugendliche noch attraktiv sein, so müssen sie auch technologisch fit sein – dies gilt für das Personal wie die Ausstattung. Gratis-W-LAN und eine ausreichende Zahl an PCs mit Internetanschluss sind eine Selbstverständlichkeit.

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Die Mitarbeiterinnen sind in der Lage, die Benutzerinnen und Benutzer bei ihren Recherchen und Arbeiten zu unterstützen. Für Kinder und Jugendliche bieten sie Animationsprogramme und Räumlichkeiten oder Zeitfenster, in denen sie unter sich sein können und sich wohl fühlen. Gute Beispiele für solche Abteilungen sind „Kibiz“ und „U21“ in der Stadtbibliothek in Winterthur. [5]  
 
Natürlich bieten Bibliotheken wie bisher gedruckte Informationen an und stellen ein breites Angebot  an elektronischen Medien und Informationen zur Verfügung (z.B. DVDs, CDs, Games, Zeitschriften, Bücher, Datenbanken). Es ist also weiterhin Aufgabe von Bibliotheken, Informationen zu sammeln und möglichst gratis zur Verfügung zu stellen.
 
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Wichtig ist bei alledem auch die Lage. Die Bibliothek steht nicht mehr in einer stillen Seitenstrasse, sondern im prallen (Einkaufs-)Leben einer Stadt oder einer Gemeinde. Geschäfte haben erkannt, dass die Bibliothek ein interessanter Partner für sie ist – und umgekehrt. So verfügt das Bibliotheksnetz in der Stadt Zürich z.B. über eine Filiale im  Shoppingcenter Sihlcity, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Geschäften, Kinos, Wellnessanlagen, Restaurants und Arztpraxen. [6]

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Grosse Bibliotheken integrieren ihrerseits eine ganze Reihe von anderen Dienstleistungen, z.B. ein Restaurant, eine Cafeteria, eine Buchhandlung, eine Bankfiliale, Ausstellungs- und Konferenzräume. [7]  
 
Gleichzeitig will die Bibliothek gesehen werden. Sie bildet einen städtebaulichen Akzent. Nicht zufällig haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten führende Architekten Bibliotheksbauten angenommen: z.B. Herzog & de Meuron (Universitätsbibliothek Cottbus), Rem Koolhaas (Public Library Seattle), Mario Botta (Stadt- und Landesbibliothek Dortmund).

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Beispiele
Bibliotheken, welche die Funktionen eines „3. Orts“ mit Erfolg erfüllen, sind in Holland, Skandinavien und den angelsächsischen Ländern zahlreich. Am bekanntesten ist derzeit die grösste öffentliche Bibliothek in Europa, die Openbare  Bibliotheek von Amsterdam. [8] Das eindrücklichste Beispiel in den USA ist wohl die Seattle Public Library. [9] In der Deutschschweiz kommen dem Modell etwa die Stadtbibliotheken von Zug und Winterthur oder die Kantonsbibliothek Baselland, Liestal, am nächsten. 
 
Sind aber kleine Bibliotheken von diesen Ansprüchen nicht überfordert? Sie müssen sich auf jeden Fall vom Ausleihort zum Ort des Verweilens, Austausches und der Weiterbildung wandeln, zu einem sozialen Zentrum der Gemeinde.  Das heisst auch, dass die Mitarbeiterinnen neue Kompetenzen in den Bereichen Animation und Informatik erwerben müssen. Sicher kann eine Gemeindebibliothek nicht alle oben angeführten Aufgaben erfüllen. Sie muss sich auf ausgewählte Bereiche konzentrieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Bibliothek Landquart und Umgebung. [10] Sie ist zentral beim Bahnhof gelegen, verfügt über eine Lese-Lounge  mit Tee und Kaffee (und wöchentlichem Lesertreffen mit Kuchen). Ein Kinderlabor vermittelt naturwissenschaftliches Wissen. Die Senioren- und die Mütter-/Väterberatung sowie Veranstaltungen von Vereinen finden in ihren Räumen statt. Die SBB-Tageskarten können über die Bibliothekswebseite reserviert und in der  Bibliothek abgeholt werden. Ja, dank ihrer Nähe zum Zivilstandsamt dient die Bibliothek auch einmal als Apéroraum für eine Hochzeitsgesellschaft.



Robert Barth
robert.barth@bluewin.ch


Verwendete und weitere Literatur zum Thema
  • Buschman, John E.; Leckie, Gloria J. The library as a place. History, community and culture. Westport 2007.
  • Fansa, Jonas. Bibliotheksflirt. Bibliothek als öffentlicher Raum. Bad Honnef 2008.
  • Gläser, Christine. Die Bibliothek als Lernort – neue Servicekonzepte. In: Bibliothek- Forschung und Praxis, 32 (2008), S. 171-182.
  • Hapel, Rolf. Urban Mediaspace Aarhus. In: Bibliothek – Forschung und Praxis. 34 (2010), S. 331-336.
  • Haushaltsszenarien. Entwicklung der Privathaushalte zwischen 2005 und 2030. BFS Aktuell. Neuchâtel 2010.
  • Henning, Wolfram. Öffentliche Bibliotheken der Zukunft. [02.08.2013]
  • Keller-Loibl, Kerstin. Das Image von Bibliotheken bei Jugendlichen. Empirische Befunde und Konsequenzen für Bibliotheken. Bad Honnef 2012.
  • Kersting-Meuleman, Ann; Schmidt, Kerstin; Voigt, Rolf. Der dritte Ort. In: ABI-Technik 28, H. 4 (2008), S. 230-246.
  • Kirchner, Terry; Moseni, Arezoo. Library as a Third Place - NYLA 2008. [02.08.2013]
  • Martel, Marie D. La bibliothèque tiers-lieu. De la sphère publique au living lab. In: Bibliothèque(s), Nr. 65/66, 2012, p. 14-18.Mittrowann, Andreas. Die Bibliothek als Ort. Trends, Themen und Bausteine, 2009.  [02.08.2013]
  • Oldenburg, Ray. The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day. New York 1989.Oldenburg, Ray. Celebrating the Third Place: Inspiring Stories about the "Great Good Places" at the Heart of Our Communities. New York 2000.
  • Romer, Hermann. Privates Leben in öffentlichen Bibliotheken. Raumentwürfe für zukunftsgerichtete Bibliothekskonzepte. Muri 2010. [ppt-Folien]
  • Vogt, Hannelore. Innovative Bibliothekskonzepte aus Frankreich. In: Buch und Bibliothek 63 (2011), 7/8, S. 565-568.
 
 

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