Im Hinblick auf die Einschränkungen des öffentlichen Lebens während der COVID-19-Pandemie plädiert die französische Soziologin, Bibliothekarin und Bloggerin Raphaëlle Bats, dafür, dass sich Bibliotheken noch stärker zu gastfreundlichen Institutionen entwickeln sollen – sowohl in der Stadt oder im Dorf, wie auch im virtuellen Raum im Internet. Sie verwendet dabei den Begriff «hospitalité documentaire», was mit «gastfreundliche Bibliothek» übersetzt werden kann. Das französische «hospitalité» ist mit dem Wort «(Ho-)spital» verwandt.
Raphaëlle Bats (Foto: Bibliomedia Lausanne)
Daraus folgert Raphaëlle Bats, dass Bibliotheken Empathie für ihr Publikum entwickeln und ihre Dienstleistungen vermehrt an den «Verletzlichkeiten» (vulnérabilités) der Menschen ausrichten sollen. Ähnlich einem Spital, dass sich um die Verletzungen der Patienten kümmert, sollen sich die Bibliotheken um die Sorgen und Bedürfnisse der Bevölkerung kümmern. Dabei spricht sie von der Verantwortung der Bibliotheken als «Service public»-Dienstleister gegenüber einer Welt, die von Krisen und Verwirrungen gekennzeichnet ist. Durch die bibliothekarische Gastfreundschaft, würden Bibliotheken noch mehr zu Orten, wo Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen und Narrativen sich willkommen fühlten. Und es werde verhindert, dass Bibliotheken zu Orten würden, wo Worte der Autorität sich etablieren und Menschen ausschliessen würden.
Das COVID-Zertifikat in Bibliotheken
Auch der Dachverband der Bibliotheken in der Schweiz, Bibliosuisse, hat sich mit dem Thema Corona-Einschränkungen und Bibliothek auseinandergesetzt und eigens dazu eine Plattform eingerichtet (die zurzeit nicht zugänglich ist). Vor allem Bibliosuisse-Mitglieder aus der lateinischen Schweiz und aus dem ländlichen Raum bekundeten ihre Mühe mit der diskriminierenden Seite des COVID-Zertifikats. In ihren Augen sollten Bibliotheken Orte der «Gastfreundschaft» für alle sein – auch in Pandemiezeiten. Die bibliothekarische Skepsis gegenüber dem COVID-Zertifikat war auch in unserem westlichen Nachbarland gross: Laut einer Umfrage des französischen Bibliotheksverbands (Association des bibliothécaires de France) vom Oktober 2021 sprachen sich 88% der befragten Bibliotheken gegen die Anwendung des «Passe sanitaire» in Bibliotheken aus.
In den grossen Städten der Deutschschweiz war das COVID-Zertifikat weniger umstritten. Bibliosuisse versuchte alle Sensibilitäten in Bezug auf die Anwendung des COVID-Zertifikats in Bibliotheken zu vertreten und wies darauf hin, dass Bibliotheken vermehrt als Kultur- und Bildungsinstitutionen wahrgenommen würden und deshalb die COVID-Massnahmen, die für diese Institutionen gelten, auch umsetzen müssten. Im Gegensatz zum Buchhandel, der zu diesem Zeitpunkt von der COVID-Zertifikatspflicht befreit war. Schliesslich forderte Bibliosuisse am 28. Januar 2022 in einem offenen Brief, dass das Bundesamt für Gesundheit die damals geltende COVID-Zertifikatspflicht in öffentlichen Bibliotheken zeitnah überdenken solle, weil es im Widerspruch zum brancheneigenen Ethik-Kodex stehe:
«Aktuell sind bestimmte Personengruppen für die Bibliotheken nicht mehr zu erreichen; allgemein verzeichnen die öffentlichen Bibliotheken einen deutlichen Besucherrückgang. Ihrem differenzierten Auftrag als offene, niederschwellige und inklusive Einrichtungen des öffentlichen Lebens können die Bibliotheken nicht mehr ganzheitlich nachkommen; ihres für die Gesellschaft relevanten Status als lebendige und sichere Aufenthaltsorte sind sie derzeit bedauerlicherweise enthoben.»
In dem am 4. Februar 2022 erfolgten Antwortschreiben zeigte das Bundesamt für Gesundheit einerseits Verständnis für das Anliegen von Bibliosuisse: «Öffentliche Bibliotheken leisten zweifelsohne einen wesentlichen Beitrag im Bereich der Bildung und der kulturellen Integration», anerkennt die BAG-Direktorin Anne Levy. Andererseits stellte sie fest: «Eine Zertifikatspflicht erscheint, im Vergleich zu einer Schliessung der Betriebe, eine verhältnismässigere Massnahme».
Ende Februar 2022 wurde die COVID-Zertifikatspflicht in Bibliotheken (und anderen Einrichtungen) vom Bundesrat aufgehoben.
Bleibt zu hoffen, dass die öffentlichen Bibliotheken in Zukunft von den Behörden vermehrt auch als wichtige Institutionen der Gesellschaft wahrgenommen werden, die gerade auch in Krisenzeiten eine wichtige Funktion zur Inklusion der Gesamtbevölkerung leisten und dementsprechend allen zugänglich sein müssen: L’hospitalité documentaire oblige!
Conférence de Raphaëlle Bats (19.11.2021, Bibliomedia Lausanne) :
« Vers une hospitalité documentaire : redéfinir l’accueil et l’inclusion en bibliothèque » >
Raphaëlle Bats, « Les bibliothèques en 2020 : quatre points de rupture », in: Arabesques, 101 | 2021, 4-5 >
Tipp :
Die aktuelle Ausgabe der französischen Zeitschrift für wissenschaftliche Bibliotheken «Arabesques» befasst sich mit dem Thema «Behinderung und Bibliotheken», barrierefreier Zugang zu den Online-Angeboten der Bibliotheken:
Arabesques, 106 | 2022, Handicaps et bibliothèques - Cap vers l'accessibilité numérique >