"Dritte Orte" sind hip und wer sich heute als Architekt, Stadtplaner oder Politiker mit öffentlichen Räumen beschäftigt, kommt nicht mehr um sie herum. Der Begriff entstammt allerdings weder dem Städtebau noch der Architektur, und er ist auch nicht mehr ganz neu. Inwiefern hat er Potential, der Gemeindebibliothek von morgen eine neue Legitimation zu geben?
Der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg prägte den Begriff „Dritter Ort“ in den 1980er Jahren für jene "guten alten Plätze" in der Öffentlichkeit, wo Freundschaften entstanden, wo man debattierte oder liebe Gewohnheiten pflegte. Das Wiener Kaffeehaus, der Tante-Emma-Laden oder die italienische Piazza waren solche Orte, die Gefühle weckten und die die Bevölkerung nicht zuletzt wegen ihrer einladenden Atmosphäre aufsuchte. 30 Jahre später knüpft die Werbewelt am alten "Dritten Ort" an und definiert ihn neu als Übergangszone zwischen der Privatsphäre zu Hause und der Berufswelt am Arbeitsplatz.
Als emotional aufgewerteter Bereich im öffentlichen Raum heisst der dritte Ort seit den 1990er Jahren "Home away from home" (Sabina Hujdurovic).
Einzelne Unternehmen nutzten das Konzept gezielt als Marketinginstrument. So richteten Hotels, Flughäfen oder Shopping Centers Wohlfühlecken, Erlebniscafés oder Spasszonen ein. Hingehen an die Orte wird durch Unterhaltung, Ambiance und Hochgefühl belohnt – was die Verweildauer an Ort und damit den Konsum verlängert. Und spätestens mit Klaus Ceynowas bahnbrechendem Werk "Von der dreigeteilten zur fraktalen Bibliothek" (1994) fand dieses Konzept im fraktalen Hype vor fünfzehn Jahren auch Eingang in die schweizerische Bibliothekswelt – allerdings unter dem Begriff "transitorischer Raum". Dieser will nichts anderes sein als ein Zwischenbereich zwischen Privatleben und Arbeitswelt und verspricht die bruchlose Fortführung von liebgewordenen Gewohnheiten zu Hause in der Bibliothek. Deshalb plädiert Ceynowa auch für eine öffentliche Bibliothek des verlängerten Wohnzimmers mit entsprechender Ausstattung.
Für die öffentlichen Bibliotheken sind Ceynowas Überlegungen nach wie vor von Interesse, auch wenn sich die Verhältnisse seit Erscheinen seiner "fraktalen Bibliothek" stark verändert haben.
Das 21. Jahrhundert ist geprägt von schnelllebiger Technologie, allgegenwärtiger, mobiler Kommunikation und grenzenlos verfügbarer Information. Die Bibliothek als Medienspeicher und Parkhaus für Bücher erhält damit ein Legitimationsproblem. Wie kann sie den noch bei Ceynowa gestellten Anspruch auf Alltagsrelevanz für die Bevölkerung einlösen und ihren Mittelbedarf gegenüber dem Rechtsträger rechtfertigen, wenn ihre Kernaufgaben nicht mehr zeitgemäss sind oder vom Publikum schleichend immer weniger nachgefragt werden? Welche Antworten haben die öffentlichen Bibliotheken in der Schweiz auf dieses Legitimationsvakuum und welche neue Rolle sollen sie künftig übernehmen? Bei der Beantwortung dieser Fragen ist die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (SAB) in besonderer Weise gefordert, doch bis heute ist sie die adäquaten Antworten schuldig geblieben.
Die Richtlinien für Gemeindebibliotheken (3.A., 2008) jedenfalls skizzieren den Standpunkt der SAB bezüglich der Herausforderungen der Zukunft eher dürr. "Öffentliche Bibliotheken […] arbeiten kundenorientiert nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen […]" oder "Öffentliche Bibliotheken verfügen über attraktive Räume […]. Sie sind kulturelle und soziale Treffpunkte […]", heisst es in den einleitenden Grundsätzen 5 und 6 lapidar.
Dabei böte die 100jährige Tradition der Schweizer Volksbüchereien so manchen Anknüpfungspunkt für die Legitimation als "guter alter Platz". Nahm nicht ihre Geschichte den Anfang beim Unterhalt öffentlicher Lesezimmer, oft auch Wärmestuben genannt? Sie boten den wenig vermögenden Schichten beheizte Räume, quasi Wohnzimmer, wo sie den Feierabend mit Lesen verbringen konnten. Später, 1976, schreibt Arnold Scheidegger über die Rolle der Regionalbibliothek Affoltern am Albis: "In den gemütlichen Räumen trifft sich die […] Jugend regelmässig zum Schwatz." (Bibliotheken in der Schweiz, hrsg. von der Vereinigung Schweizerischer Bibliothekare, 1976, S. 107). "Hormonbibliothek" nennt Rob Bruijnzeels 25 Jahre später dasselbe Phänomen in seinen "Bibliotheken 2040" (2003). Die Bibliothek war eben immer schon ein emotionaler Raum.
Auch zum Thema "Führung der Bibliothek nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen" sind die SAB-Richtlinien wenig mitteilsam. Das Kapitel "Qualitätsmanagement" wird zwar mit den Worten eingeleitet, dass Verbesserungen der Wirtschaftlichkeit durch Zusammenarbeit mit andern Bibliotheken erreicht werden könne (3. Aufl, S. 45), aber im Bibliotheksplan, der für diese Zusammenarbeit die Grundlagen festlegen müsste, sucht man dann vergebens nach den entsprechenden qualitativen Ausformulierungen.
Es ist eine Binsenweisheit, dass man am besten fährt, wenn man seine Stärken pflegt und sich gegenseitig hilft. Die SAB-Richtlinien formulieren den Anspruch zwar auch, sagen aber nicht, wie dieser eingelöst werden soll.
Im Gegensatz dazu nimmt die Fachstelle Bibliotheken im Kanton Zürich die Vernetzungsfrage ganz bewusst auf. Mit der Überarbeitung der Rechtsgrundlagen für das kantonale Bibliothekswesen 2011 hat eine Arbeitsgruppe ein eigenständiges, dynamisches Modell einer "Versorgungskaskade" entwickelt. Ihr Grundsatz lautet: Wie sich eine Bibliothek in ein regionales Netz einbringt, ist ihr individueller Entscheid; welchen Service sie auf welchem Niveau, mit welcher Professionalität und für welchen Empfängerkreis anbietet, legt sie mit einem Servicemandat fest, das ihr der Rechtsträger durch Zuteilung der Mittel und der Infrastruktur vorgibt.
Mit dem selbstgewählten Profil entscheidet die Bibliothek folglich, welche Professionalität die Kundschaft von Angebot und Personal erwarten darf. Für alle Angebote und Dienstleistungen, die ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten, das heisst ihre Professionalität, übersteigen, verweist die einzelne Bibliothek auf ihre Partnerbibliotheken mit entsprechend weiter gefasstem Professionalitätsschild.
Professionalität im vorliegenden Kontext bedeutet, dass eine Bibliothek ihre Angebote und Dienstleistungen in Menge, Qualität und Know-how so anbieten soll, dass der Alltagsnutzen der Bevölkerung optimal gewährleistet ist. Dieser Service muss über eine längere Zeitspanne gesichert sein, und letztlich müssen auch entsprechend steigende Ansprüche seitens der Kundschaft mittelfristig mit den eigenen Mitteln befriedigt werden können. Das bedeutet für den Grossteil der Bibliotheken im Kanton Zürich, sich über künftige Angebote und Dienstleistungen Gedanken zu machen und allenfalls das Servicemandat und das Dienstleistungsportfolio zu reduzieren, dies mit dem Ziel, die Aussenwirkung und Leistungsfähigkeit der Bibliothek zu stärken. Heutige Realität in vielen Zürcher Bibliotheken ist ein zu grosses Servicemandat, das mit zu knappen Mitteln und zu tiefer Professionalität betreut wird. So bleiben die Erwartungen der Öffentlichkeit auf der Strecke, die Mittel werden aus Sicht der Träger nicht alltagsorientiert eingesetzt und die Angebote heben sich nicht vom Durchschnitt ab. Die Folge sind ein frustriertes Bibliothekspersonal und unzufriedene oder wegbleibende Nutzerinnen und Nutzer. Oft leisten sich Gemeindebehörden auch heute noch den falschen Luxus solch "unprofessioneller" Budgetbibliotheken, weil ihnen die Einsicht in das Problem fehlt.
Mit einer Umsetzung der Versorgungskaskade verfolgt der Kanton Zürich die Absicht, die Rolle und Position der öffentlichen Bibliotheken in den Gemeinden zu stärken. Sie sollen auch vor dem Hintergrund eines digitalisierten Alltags eine Daseinsberechtigung haben. Doch worin manifestiert sich diese, wenn immer regelmässiger klassische Bibliotheksangebote wie Bücher, Musik und Filme aus dem virtuellen Netz heruntergeladen werden, wo die Medien rund um die Uhr, frei und oft gratis verfügbar sind? Offensichtlich reicht die klassische Bibliotheksaufgabe nicht mehr aus, die Institution in Zukunft zu legitimieren.
Will sie sich also weiterhin unentbehrlich machen, dann reicht es nicht mehr, die Aufgaben, die die Bibliothek schon immer gut erfüllte, noch besser zu erledigen. Sie muss neue Dinge tun, sie muss die alte Legitimation durch eine neue ersetzen, die Stärken sollen gebündelt und die Schwächen getrost eliminiert werden.
Die künftige Versorgungskaskade des Kantons Zürich will Bibliotheken deshalb zur Regionalisierung einladen, das heisst zur Zusammenarbeit unter verschiedenartigen und verschieden grossen Bibliotheken in einer Gegend. Ihre Legitimation gewinnt jede Bibliothek im Netz dadurch, dass sie erstens jene Leistungen in hochwertiger Qualität und professionell erbringt, die von ihr erwartet werden, und zweitens dadurch, dass sie Dienstleistungen anderen Bibliotheken überlässt, die jene qualifizierter erbringen können. Das kann einerseits zum Verzicht liebgewordener Tätigkeiten führen, anderseits aber auch helfen, sich von Belastungen und Ballast zu befreien. Dass aber damit das über Jahrzehnte erfolgreiche Modell der Sortimenter-Bibliothek ausgedient hat, werden nur noch eingefleischte Traditionalisten bezweifeln. Denn wie bereits vor zehn Jahren das Sortimenter-Sterben im Buchhandel eingesetzt hat, wird auch die klassische Freihandbibliothek bis in zwanzig Jahren ihre Daseinsberechtigung verloren haben. Und Hand aufs Herz: Wer glaubt heute, dass die Schrankbibliothek von einst noch eine Daseinsberechtigung hat, nur weil die Bibliothekarinnen und Bibliothekare in den 1960er Jahren an sie glaubten?
Und welche Rolle spielen die neuen Bibliotheken der Zukunft in ihren Gemeinden? Die Antwort gibt das Marketingkonzept des "transitorischen Raums": Menschen kommen her um auszuspannen, Kontakte zu knüpfen oder sich Wissen anzueignen. Die öffentlichen Bibliotheken bieten seit vielen Jahren Raum dafür und erfüllen damit eine soziale Funktion, sie leisten einen Beitrag zur Integration und zur Identitätsstiftung ganzer Quartiere und Dörfer. Bibliotheken vernetzen den öffentlichen Raum einer Gemeinde, doch um diese Rolle zu spielen, müssen sie als Ort zeitgemäss, zugänglich und anziehend sein. Mit dem Prinzip des "Dritten Orts" als Modus vivendi der Bibliothek der Zukunft wird aber der bisherige Modellbetrieb der öffentlichen Bibliothek auf den Kopf gestellt. Der Unterhalt von Räumen, in denen Wissen erworben, Bibliothekspädagogik gelehrt oder Kultur realisiert wird, setzt ein ganz anderes Verständnis von einer Bibliothek voraus als ein Parkhaus von Büchern, wo Medien und ihre Entleiher zügig verkehren und den Ort möglichst schnell wieder verlassen. Ein Parkhaus ist im herkömmlichen Sinn kein einladender, dritter Ort, eine öffentliche Bibliothek will dies aber sehr wohl sein.
Der Betrieb der Zukunft könnte etwa so aussehen: Nach wie vor bleibt die Ausleihe von Medien ein Grundauftrag der Bibliothek. Doch welcher Bestand ist angemessen? Gerade in kleinen Bibliotheken kann die Reduktion des Angebots auf einzelne Themen und Genres eine Chance sein, sich neu zu profilieren. Durch Aufwertung des Raums, eine lockere Atmosphäre und ein kleines aber feines Angebot steigt die Aufenthaltsqualität. Die Einwohner kommen zum Schwatz, zum Strickabend mit Märchen oder zur "Stubete". Und für die Vermittlung der Sachinformation verweist sie das Publikum in die nächstgrössere Bibliothek im Nachbarort.
Sichergestellt sein muss jedoch die flächendeckende Versorgung mit Information, Kultur und Wissen in der gesamten Region. Die Angebote müssen gemeinsam entwickelt und getragen werden, unabhängig davon, in welcher Bibliothek sie am Ende vermittelt werden. Das Zielpublikum soll die Vernetzung spüren und eine Corporate Identity der Bibliotheken erkennen. Dass dieses Modell im Kanton Zürich in Ansätzen erkennbar ist, zeigen die Bibliotheken im Knonauer Amt oder das regionale Bibliotheksnetzwerk Winterthur und Andelfingen. Die Zukunft der öffentlichen Bibliotheken gehört den transitorischen Räumen und weniger der Verwaltung des Medienbestands. Insofern könnte man auch sagen, entspricht der Legitimationsprozess der Zukunft auch einer Neuausrichtung der fraktalen Bibliothek: weg von der Bestandszentrierung und hin zur Raumorientierung, quasi eine "fraktale Bibliothek reloaded…" So erhält die Gemeindebehörde in ihrer Bibliothek einen professionellen Partner zur Erfüllung des Service Public in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Hermann Romer, Winterthurer Bibliotheken