Auf dem Weg zur Inklusiven Bibliothek

26.03.2019 | Von Clemens Moser | Bestand | Aus den Bibliotheken | Leseförderung | Aus der Praxis - für die Praxis| Bibliotheksangebote| Bibliotheksförderung| Einfache Sprache| Einmalige Beiträge| Inklusive Bibliothek| Kundenorientierung| Zielpublikum | Stadtbibliothek Biel / Bibliothèque de la Ville de Bienne

Die Stadtbibliothek Biel hat ein neues Projekt lanciert, das Personen entgegenkommt, die Mühe haben mit Lesen und Schreiben.

Von Clemens Moser
Clemens Moser absolvierte eine Ausbildung zum Diplombibliothekar und nach Tätigkeiten im Informatikbereich den Kurs für wissenschaftliche Bibliothekare in Zürich. 1994-2004 war er Abteilungsleiter in der ZB Zürich und 2004-09 stv. Kantonsbibliothekar an der Aargauer Kantonsbibliothek Aarau. Seit 2009 ist er Direktor der Stadtbibliothek Biel.
Der erste Abschnitt unseres Leitbildes lautet: «Alle Menschen, unabhängig von sozialer Schicht, Ausbildung, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Alter und Wohnort, sollen Zugang zu Information und Wissen haben. Es ist das Bestreben der Stadtbibliothek Biel, dass keine Einwohnerinnen und keine Einwohner der Region von diesem Zugang ausgeschlossen sind. »
 
In der Schweiz haben rund 800'000 Erwachsene, bzw. jede 6. Person zwischen dem 16. und 65. Altersjahr, Mühe mit Lesen und Schreiben. Eine bibliotheksferne Zielgruppe, die wir gewinnen möchten, denn entsprechend unserem Leitbild und unserem Leistungsvertrag sind wir verpflichtet, dahinführend zu arbeiten. Bis anhin boten wir Bücher in Grossdruck an für Menschen mit Sehbehinderung oder Sprachkurse in verschiedensten Sprachen von Niveau A1 bis B2, führten aber keine Angebote für Menschen mit einer geistigen Behinderung, Lernschwierigkeiten, Lese- und Rechtschreibschwäche, für Menschen mit einer beginnenden Demenzerkrankung oder funktionale Analphabeten. Um diese Gruppe nicht auszuschliessen, haben wir uns entschlossen unter dem Titel «Leichter zu lesen / Facile à lire» neu Medien in leichter Sprache anzubieten. Daneben sollten auch unsere Reglemente durch Pro infirmis in leichter Sprache übersetzt und ein spezieller Flyer erstellt werden.
 
Leichte Sprache
Die leichte Sprache ist ein Hilfsmittel, das Menschen, die aufgrund von Illettrismus, einer Krankheit oder einer Behinderung oder Krankheit dauerhaft oder vorübergehend in ihrer Lesefähigkeit eingeschränkt sind, selbstständigen Zugang zu Informationen ermöglicht. Ebenfalls profitieren können Menschen mit einer anderen Muttersprache. Zu dieser Gruppe gehören übrigens auch gehörlose Menschen, deren Muttersprache die Gebärdensprache ist und die mit der Schriftsprache – die für sie eine Fremdsprache ist – oft grosse Mühe haben.
 
Texte in leichter Sprache entstehen, indem Texte aus der sogenannten Alltagssprache, aus der Behördensprache oder der Literatursprache in leichter verständliche Sprache übersetzt werden. Diese Übersetzungen erfolgen nach speziellen Regeln. Da die Verständlichkeit der Informationen auch durch die Darstellung (Layout und Typografie) beeinflusst wird, wird gleichzeitig eine schlichte und übersichtliche Darstellung des Texts angestrebt. Nach erfolgter Übersetzung wird eine Prüfung des angepassten Textes durch die jeweilige Zielgruppe empfohlen.
 
Soll ein Text in leichter Sprache im Internet publiziert werden, ist neben einer geeigneten Typographie auch die gute Auffindbarkeit sehr wichtig. Die Texte müssen klar strukturiert sein und in einem einzigen oder einigen wenigen Navigationsschritten gefunden werden. (Hinweise und eine Publikation zum Thema finden Sie auf der Webseite www.einfachsurfen.ch.)
 
Auf dem Weg zur Inklusiven Bibliothek
Um die Bedürfnisse der neuen Zielgruppe zu kennen, wurde Insieme sowie verschiedene lokale Institutionen kontaktiert (Stiftung Dammweg, Beschäftigungsgruppe Bill-Haus, Behindertenwerkstätten SIV/ASI, Alterswohnheime, Z.E.N., heilpädagogische Tagesschule, AK 15 Atelier Passage, Stiftungen GAD, Battenberg). In enger Zusammenarbeit mit der Stiftung Zentrum SIV/Fondation Centre ASI Biel/Bienne wurden ausserdem zwei Bibliotheksführungen für erwachsene Menschen mit einer Behinderung durchgeführt. Die Erfahrungen waren durchwegs positiv, zeigten aber einige Mängel unserer Bibliothek sehr deutlich auf: zu kleines Medienangebot (z.B. keine Romane in leichter Sprache für Erwachsene), unverständliche Signaletik, zu komplexe Haus- und Benutzungsordnungen. Im direkten Kontakt wurde uns auch bewusst, dass die avisierten Personengruppen speziell betreut werden müssen und individuelle Ansprechpersonen (!) in der Bibliothek benötigen.
 
Um das Medienangebot auf- und auszubauen, haben wir Kontakt aufgenommen mit Bibliomedia Solothurn und Lausanne. Für dieses neue, zweisprachige Angebot wurde im öffentlichen Bereich der Bibliothek ein spezieller Ort mit Lesemöglichkeit eingerichtet.

 
Neues Angebot «Leicht zu Lesen» Kennzeichnung des Angebots «Leicht zu Lesen»
  
Dank der finanziellen Unterstützung des Kantons und der Stiftung «vinetum» konnten ausserdem ein spezieller Flyer, die Hausordnung sowie die Benutzungsordnung in leichte Sprache übersetzt werden. Hier ein Ausschnitt aus der Benutzungsordnung:

 
 
Individuelle Betreuung
Dank den beschriebenen Massnahmen ist die Stadtbibliothek Biel einen grossen Schritt weitergekommen in ihrer Entwicklung zu einer «Inklusiven Bibliothek». Das neue Projekt wird durch eine deutsch- und eine französischsprachige Kollegin betreut, die entsprechende Weiterbildungskurse besucht haben (SAB Kurs «Inklusive Bibliothek», bzw. Illettrisme – AJB). Die beiden Bibliothekarinnen sind Ansprechpartnerinnen für Heime und andere Institutionen, sie schulen die übrigen Kolleginnen und Kollegen und sind zuständig für die Planung und die Organisation von Führungen, Ausstellungen und Lesungen, sie kaufen die Medien ein und vermitteln das neue Angebot an «ihre» Kundschaft, was neben dem bibliothekarischen Know-how grosse Sozialkompetenzen voraussetzt!
 
Anlaufstellen für «Leichte Sprache»:
  • Pro Infirmis:
    Pro Infirmis ist das Kompetenzzentrum für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz und führt in Zürich das Büro für «Leichte Sprache».

    Büro für Leichte Sprache: www.büro-leichte-sprache.ch
    Kontakt: leichte.sprache@proinfirmis.ch, 058 / 775 25 25.
     
  • Wohnwerk Basel:
    Das WohnWerk ist eine Institution für Menschen mit Behinderungen. Das Büro bietet Übersetzungen und Weiterbildungen in leichter, einfacher und bürgernaher Sprache an.

    Büro Leichte Sprache – WohnWerk Basel: www.leichte-sprache-basel.ch
    Kontakt: leichte-sprache@wohnwerk-bs.ch, 061 / 386 85 63.  
  
Clemens Moser
Direktor Stadtbibliothek Biel
 
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Auf Empfehlung der Bibliothekskommission des Kantons Bern wurde das von der Stadtbibliothek Biel lancierte Projekt «Leichte Sprache» vom Kanton Bern mit einem einmaligen Förderbeitrag unterstützt.
 
Mehr Informationen zur Bibliotheksförderung im Kanton Bern >
 
Weitere Projekte, die vom Kanton Bern mit einem einmaligen Beitrag unterstützt wurden >
 
 
 
 

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