Jede und jeder von uns hat die Erfahrung gemacht, dass die Lösung einer Aufgabe, die man selber gefunden hat, länger im Gedächtnis bleibt und besser wiederholt werden kann, als wenn man der Erklärung einer anderen Person gefolgt ist. Dabei kann es sich um die passende Formatierung in Excel handeln oder darum, den schnellsten Weg zum Berner Bahnhof zu finden. Der Mensch behält 90% von dem, was er selbst erarbeitet, aber nur 20% von dem, was er gehört hat (
https://www.fernstudieren.de/im-studium/effektives-lernen/die-psychologie-des-lernens/).
Ausgehend von Erkenntnissen der Hirnforschung entwickelte Susanne Rockenbach (Universitätsbibliothek Kassel) ab 2003 das Konzept der «Learning Library (LL)» für die Einführung von Gruppen in die Bibliotheksbenutzung. Bei einer LL erarbeiten sich die Teilnehmenden das Wissen über die Bibliothek selber anhand von Fragebögen und Präsentationen in der Gruppe. Die Bibliotheksmitarbeitenden werden zu «ModeratorInnen» in diesem Prozess. Dadurch unterscheidet sich die LL von der «Teaching Library», bei der «allwissende» Mitarbeitende der «ahnungslosen» Kundschaft die Bibliothek erklären.
Die Teilnehmenden einer LL werden in Kleingruppen von 2-4 Personen aufgeteilt. Jede Gruppe erhält einen Fragebogen mit anderen Aufträgen zur Bibliothek. Die Gruppen erarbeiten sich das Wissen gemeinsam, können aber auch das anwesende Bibliothekspersonal um Unterstützung bitten. Anschliessend präsentieren sich die Gruppen gegenseitig ihre Ergebnisse, moderiert von einer Bibliotheksmitarbeiterin oder einem Bibliotheksmitarbeiter. Ziel der Methode ist es, bei den Teilnehmenden Neugierde und Interesse an der Bibliothek zu wecken, statt reine Fakten zur Bibliothek zu vermitteln.
Susanne Rockenbach geht davon aus, dass dieses Vorgehen nachhaltiger ist als die «Teaching Library» und postuliert, dass die Methode bei unterschiedlichen Benutzergruppen – Schülerinnen und Schüler Studierende, Seniorinnen und Senioren – angewendet werden kann.
«Learning Library» in der Bibliothek Münstergasse
Die Bibliothek Münstergasse ist ein Standort der Universitätsbibliothek Bern. Sie ist zentral in der Altstadt gelegen und wendet sich mit ihren Dienstleistungen sowohl an das studentische als auch an das kantonale Publikum. Nach einem grundlegenden Umbau und einer Neuausrichtung der Bibliothek führt das Team Information & Schulung (I&S) seit Juni 2016 Bibliothekseinführungen für Mittelschulklassen (Sek. II) nach der «Rockenbach-Methode» durch. Bis heute nahmen ungefähr 1365 Schülerinnen und Schüler aus dem Kanton Bern an «Learning Libraries» teil (hochgerechnet: 91 Gruppen mit durchschnittlich 15 Teilnehmenden).
Die Leiterin der Abteilung Benutzung hatte in einer anderen Bibliothek gute Erfahrungen mit der Methode gemacht und initiierte diese Form der Informationskompetenzvermittlung in der Bibliothek Münstergasse. Nachdem sich die Mitarbeitenden im Rahmen eines Weiterbildungstags mit der LL- Methode vertraut gemacht hatten, erarbeitete das Team I&S Fragebögen mit je fünf Fragen aus den Bereichen «Recherche», «Service/Infrastruktur» und «Webseite/Nutzungsbedingungen».
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Suchauftrag 1, Serie A |
Um das Zielpublikum auf das neue Angebot aufmerksam zu machen, wurden vor Beginn des neuen Schuljahrs die Schulleitungen der Mittelschulen im Kanton Bern wie auch die Mediotheken angeschrieben. Darauf meldeten sich ab August 2016 mehrere Klassen aus Gymnasien wie auch aus berufsbildenden Mittelschulen via Online-Formular auf der Webseite der Bibliothek zur Learning Library an.
Eine «Learning Library» in der Bibliothek Münstergasse dauert 90 Minuten. Das sind zwei Schullektionen und entspricht dem Zeitbudget, das Lehrkräfte in der Regel für Exkursionen zur Verfügung haben. Der Ablauf entspricht dem Konzept von Susanne Rockenbach. Eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Teams I&S erklärt kurz das Vorgehen (5-10 Minuten). Anschliessend erhalten die Kleingruppen ihre Arbeitsaufträge und haben 45 Minuten Zeit, die Fragen zu beantworten.
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Suchauftrag 2, Serie A |
Die Schülerinnen und Schüler bewegen sich selbstständig durch die Bibliothek und lernen neben den Dienstleistungen und den Katalog auch das Gebäude kennen. Zum Abschluss präsentieren sich die Kleingruppen gegenseitig ihre Ergebnisse (30 Minuten). Das Bibliothekspersonal moderiert diesen Prozess und ergänzt, wenn nötig, wichtige Informationen zur Bibliothek.
Das Einführungsangebot für Schulklassen wurde stetig weiterentwickelt. Einerseits erarbeitete das Team weitere Übungsfragen und stellte je nach Interesse der Gruppe angepasste Fragebögen aus diesem Fragenpool zusammen. Andererseits wurde systematisch das Feedback der teilnehmenden Lehrkräfte eingeholt und ausgewertet.
Grenzen und Weiterentwicklung der Methode
Die Lehrkräfte äusserten sich überwiegend positiv zur Learning Library. Einige wünschten sich, dass stärker auf die Fragestellungen der Schule – z.B. Maturaarbeitsthemen – eingegangen wird. Die Schülerinnen und Schüler waren weniger begeistert vom gegenseitigen Präsentieren der Gruppenergebnisse im Plenum, weil sie dies in der Schule bereits häufig machen müssen. Auch organisatorisch war das Team I&S gefordert. Denn die Nachfrage nach Learning Libraries nahm jedes Jahr zu: 2016 meldeten sich 10 Klassen an, 2017 bereits 23 und 37 im Jahr 2018. Viele Lehrkräfte kommen mittlerweile regelmässig mit einer neuen Klasse.
Aus diesen Gründen überarbeitete das Team das Format im Sommer 2018. Seit Herbst 2018 können die Lehrkräfte wählen zwischen der «klassischen Variante» und der «Learning Library mit begleiteter Recherchezeit». Bei dieser Form der Bibliothekseinführung fällt der moderierte Teil im Plenum weg. Stattdessen haben die Schülerinnen und Schüler Zeit, Literatur für ihre Matura- oder sonstige Abschlussarbeit zu recherchieren. Ein Mitglied des Teams I&S ist anwesend und unterstützt bei Fragen.
Das neue Format der «Learning Library mit begleiteter Recherchezeit» kommt sehr gut an bei den Lehrkräften und der Schülerschaft und wird inzwischen fast ausschliesslich gebucht. Im Schuljahr 2018/2019 wählten 34 Klassen das neue Angebot und 6 Klassen die «klassische» Variante.
Fazit
Für die Einführung von Mittelschulklassen in die Benutzung der UB Bern hat sich die «Learning Library» bewährt. Die Methode stellt auf «spielerische» Weise einen ersten Kontakt her zu einer wissenschaftlichen Bibliothek. Es muss nicht die «reine Lehre» sein: die Rockenbach-Methode lässt sich an die Bedürfnisse und Ressourcen der eigenen Institution anpassen. Die «Learning Library mit begleiteter Recherchezeit» entspricht den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schülern sowie der Lehrkräfte an Bernischen Mittelschulen zurzeit am besten. Die Erfahrungen weisen ausserdem darauf hin, dass auch die «Digital Natives» die professionelle Unterstützung durch Informationsspezialistinnen und -spezialisten bei der (wissenschaftlichen) Literaturrecherche schätzen.
Birgit Libiszewski
Bibliothek Münstergasse
Dienststellenleitung Lesesäle
Team Information & Schulungen
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Literatur/Quellen
- Susanne Rockenbach, «Wissenshungrig». Informationskompetenz für Oberstufenschülerinnen und - schüler. Kooperation der Stadtbibliothek Kassel und der Universitätsbibliothek Kassel. Vortag am 96. Deutscher Bibliothekartag in Leipzig 2007, urn:nbn:de:hebis:34-2007041817726
- Susanne Rockenbach, Universitätsbibliothek Kassel, Neugier und Zweifel – Informationskompetenz anders! Vortag am 97. Deutscher Bibliothekartag in Mannheim 2008¸ urn:nbn:de:0290-opus-4870
- Interview mit Felicitas Isler, Mitarbeiterin Team Information & Schulung, Bibliothek Münstergasse
- Kurse für Schulklassen. Informationen zur Learning Library auf der Webseite der Bibliothek Münstergasse
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